Dieser Beitrag ist jedoch nicht dem theoretischen Werk Mouniers gewidmet, sondern seiner Praxis. Unter Praxis wird hier die Art und Weise verstanden, mit der Mounier Menschen in den Gesprächen, die er mit ihnen führte, oder in den Kontexten, die sie zusammenführten, begegnete. Dass wir dies nachvollziehen können, ist der Veröffentlichung der jeweils mit Entretiens überschriebenen 14 Hefte zu verdanken, in denen Mounier Notizen über ebenjene Begegnungen festhielt. 1Um zu erfassen, worin die Besonderheit dieser Entretiens liegt, die uns berechtigen, hier von einer „Spiritualität der Begegnung“ zu sprechen, soll hier zunächst die Person desjenigen vorgestellt werden, der die Entretiens verfasst hat. In einem zweiten Schritt werden Mouniers Reflexionen über seine Praxis dargelegt, um dann zuletzt exemplarisch drei der von ihm dokumentierten Begegnungen in den Blick zu nehmen.
Emmanuel Mounier – eine biographische Skizze
Emmanuel Mounier wird am 01.04.1905 als Kind eines Apothekenangestellten und dessen Frau in Grenoble geboren. 2Die Familienverhältnisse sind bescheiden, aber harmonisch. Seine ältere Schwester Madeleine wird ihm Zeit seines Lebens immer eine Vertraute bleiben. Die Mouniers sind praktizierende Katholiken. Nach dem Baccalauréat beginnt er 1921 auf Wunsch seiner Eltern zunächst ein Medizinstudium, wechselt aber nach einem Jahr zur Philosophie. Schnell wird der Pascal- und Bergson-Spezialist Jacques Chevalier (1882–1962) auf ihn aufmerksam und nimmt ihn in eine philosophische Arbeitsgruppe auf, der u.a. der Philosoph Jean Guitton angehört. Die Protokolle, die er von den Sitzungen der Gruppe anfertigt, bilden dann auch das erste Heft ( Cahier ) der Entretiens . Parallel dazu besucht er am Grenobler Priesterseminar Christologie-Vorlesungen des Abbé Émile Guerry, die ganz im Zeichen der Auseinandersetzung mit dem Modernismus und der historisch-kritischen Exegese stehen. Durch Abbé Guerry, der sich stark für die Katholische Aktion einsetzt, animiert, engagiert sich Mounier in dessen Gemeinde auch karitativ. Nach erfolgreichem Studienabschluss in Grenoble (mit einer Arbeit über Descartes) geht Mounier 1927 nach Paris, um sich auf die Agrégation, die nationale Prüfung zur Anstellung als Gymnasiallehrer, vorzubereiten. Die Anonymität der Stadt macht ihm zu schaffen. Im Januar 1928 stirbt sein bester Freund Georges Barthélémy nach kurzer, schwerer Krankheit. Seine theologischen Studien verfolgt er in einer Art Privatunterricht bei dem von einem Lehrverbot wegen Modernismus betroffenen Lazaristenpater Guillaume Pouget (1847–1933). Er wird in der Folgezeit Lehrer an verschiedenen Gymnasien und arbeitet zugleich an einer Dissertation über den spanischen Mystiker Johannes ab Angelis. In den Weihnachtsferien entdeckt er die Schriften des Dichters Charles Péguy für sich. Später wird er mit einem Freund und dem Sohn Péguys sein erstes Buch über das Denken Péguys verfassen. Mounier frequentiert Ende der 1920er- und Anfang der 1930er-Jahre auch den Kreis, der sich um den zur katholischen Kirche konvertierten Philosophen Jacques Maritain (1882–1973) gebildet hat. Zugleich besucht er die katholischorthodoxen Treffen, die von Maritain und Nicolas Berdiaeff (1874–1948), dem aus der Sowjetunion emigrierten Existenzphilosophen, in Meudon und Clamart abgehalten werden (auch für diese Treffen legt er Cahiers an).
Mit anderen jüngeren Leuten reift schließlich der Gedanke, eine eigene Bewegung mit einem dazugehörigen Organ zu begründen. Daraus entsteht die Revue Esprit , deren erste Nummer im Oktober 1932 erscheint. In ganz Frankreich entstehen Esprit -Gruppen, in denen die Losung der Bewegung, „Refaire la Renaissance“, und weitere Impulse diskutiert werden. Mounier ist Chefredakteur, arbeitet aber gleichzeitig als Lehrer an der französischen Schule in Brüssel. Dort lernt er seine spätere Frau, die Belgierin Elsa „Paulette“ Leclercq (1905–1991), kennen. Sie werden 1935 heiraten.
Der Neubeginn, den Esprit anstoßen will, ist durch die Krise von 1929 ausgelöst. Jedoch führen die Personalisten die Krise nicht allein auf wirtschaftliche und soziale Gründe zurück, sondern in erster Linie auf ein reduktionistisches Menschenbild, welches das isolierte „Individuum“ in den Mittelpunkt stellt, das der Welt und den anderen Menschen aus Distanz begegnet. Dagegen entdecken sie in der „Person“ einen Gegenbegriff, der gar nicht ohne andere Personen zu denken ist.
Die Personalität des Menschen zeigt sich in grundlegenden Erfahrungen. Diese führen zu der Einsicht, dass Personen immer schon in der Welt engagiert und mit anderen Personen verbunden sind. Eine dieser Erfahrungen ist die Kommunikation, die jedem Für-sich-sein vorausgeht. 3Daher kommt neben dem grundsätzlichen Nachdenken über den Menschen als Person auch der Einsatz in konkreten Kontexten zur Sprache: Esprit nimmt Stellung zu den zeitgenössischen politischen Fragen (z.B. Spanischer Bürgerkrieg, Appeasement-Politik, Nationalsozialismus). Vor kirchlichen Autoritäten muss sich die Revue hinsichtlich ihrer Zusammenarbeit mit Nichtkatholiken rechtfertigen. In der Familie stehen Emmanuel und Paulette vor der Herausforderung, dass eine ihrer Töchter, Françoise, an einer Gehirnkrankheit leidet. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wird Mounier eingezogen und gerät in Kriegsgefangenschaft. Nach seiner Entlassung versucht er, Esprit weiterzuführen und das totalitär ausgerichtete Vichy-Regime subversiv zu kritisieren. Das Vorhaben fliegt auf und er wird inhaftiert (in Lyon, Clermont-Ferrand, Grenoble, wo er Gefängnistagebücher führt, die Teil der Entretiens sind), tritt in Hungerstreik, wird schließlich entlassen und zieht sich mit seiner Familie in den kleinen Ort Dieulefit südwestlich von Grenoble zurück. Nach der Befreiung Frankreichs ist Esprit die erste intellektuelle Revue, die wieder erscheint. Familie Mounier und weitere befreundete Familien ziehen auf das Anwesen „Les Murs Blancs“ in Chatenay-Malabry in der Nähe von Paris, um dort in einer Art personalistischer Kommune zu leben. In der Nachkriegszeit bereist Mounier eine ganze Reihe europäischer Länder (u.a. Deutschland) sowie das unter französischer Kolonialherrschaft stehende Westafrika. Es entstehen neben den vielen Beiträgen für Esprit einige Monographien wie Traité du caractère, Introduction aux existentialismes, L’affrontement chrétien, Le personnalisme und schließlich Feu la chrétienté . Am 22.03.1950 stirbt Emmanuel Mounier an Herzstillstand.
Warum schreibt Mounier die Entretiens?
Wer die 14 Cahiers und drei Journaux d’un détenu zur Hand nimmt, findet unterschiedliche Textgattungen, wie die ersten Protokolle der Grenobler Arbeitsgruppe, Gefängnistagebücher oder Reflexionen, warum Mounier diese Notizen festhält – so z.B. am 20.06.1935, also in dem Jahr, in dem er Paulette heiratet, was für ihn auch eine Zäsur in Hinsicht auf die Entretiens bedeutet: „Immer weniger Zeit, sofort Notizen zu machen. Doch sind sie nützlich. Vor einigen Jahren waren sie es aufgrund des lyrischen Bedürfnisses, des Bedürfnisses, mit mir einen Dialog zu führen, mein inneres und privates Leben eingeschlossen, welches ohne Spiegel umhergeirrt wäre. Seit ich Poulette kenne, seit es vor allem kein beabsichtigtes Geheimnis mehr zwischen uns gibt, Dinge, über die man nicht spricht, ist sie mein Spiegel und mein Schreibzeug. Auch das, was ich ihr gegenüber nicht ausspreche, stößt nicht mehr auf eine Mauer der Abwesenheit, welche es zu sich zurückströmen lässt. Deshalb ist hier, um der Überbelastung abzuhelfen, nur noch von äußeren Ereignissen die Rede, einem Bruchteil meines Lebens, für dessen Ortung ich gerade noch die Zeit habe, ohne all ihre Resonanzen benennen zu können. [Die Notizen sind] jedoch von Nutzen, um mich nicht über ihre wahre Geschichte zu täuschen, wenn ich später darüber Zeugnis abzulegen habe, worin ich mich überall eingemischt habe, oder bloß, um mich in dem zurechtzufinden, was daraus hervorgeht. Um mir nicht selbst die Vergangenheit passend zu machen, wenn ich ein Alter erlange, wo man zurückschaut, um das zu regeln, was uns an Zeit bleibt.“ (539f.) Die Notizen haben also den Sinn, ihrem Verfasser selbst den Spiegel vorzuhalten – eine Aufgabe, die endet, als er ein vorbehaltloses Leben mit seiner Lebenspartnerin beginnt.
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