Der französische Jesuit, Historiker und Theologe Michel de Certeau hat darauf aufmerksam gemacht, dass der bzw. den Kirche(n) der Boden abhandengekommen ist, der ein sozial und kulturell selbstverständliches Wahrheitsfundament darstellte. Die Repräsentation des Göttlichen, die sakramental oder über die Irrtumslosigkeit der Schrift gesichert wurde, hat sich verschoben hin zu liturgisch-ästhetisierenden, ethisch-politisch oder charismatisch-evangelikal bestimmten Darstellungsformen des Christentums, die jedoch einen grundlegenden Bruch nicht ausblenden können, der mit dem Erleben der Abwesenheit Gottes zu tun hat. Der Glaube ist für de Certeau durch diesen Bruch und durch die Erfahrung der Differenz und Abwesenheit Gottes wesentlich geprägt, aber auch ermöglicht durch diese Erfahrung. Ist auch die Erfahrung, dass „nichts fehlt“, eine solche Brucherfahrung, eine grundlegende Erfahrung, dass im Glauben nichts fester Besitz ist, ein Erleben der Abwesenheit Gottes? Wenn es richtig ist, dass der Glaube die Erfahrung von Zerbrechlichkeit ist, dann gilt es – folgt man de Certeau – diese grundlegende Glaubensschwachheit anzunehmen und alles kirchliche Machtgebaren ebenso abzulegen wie die unterschiedlichen Aktivismen, die im Gewand von Evangelisierungs- und Restaurierungsprogrammen auftreten. Es ist hingegen das „Gemurmel des allergewöhnlichsten Gebets“, das aller Ambitionen beraubt ist, welches zum Ort einer Gemeinschaft und des gegenseitigen Dienstes werden kann. Das Eintreten in eine solche Glaubenserfahrung unterliegt weder einer kirchlichen Selbstverständlichkeit noch einer anthropologischen Notwendigkeit. De Certeau fragt entsprechend, ob sich Menschen finden, die im Glauben eine „Notwendigkeit für sich erkennen“ 1. Aus einer solchen Notwendigkeit heraus können Menschen die Kirche einstimmen auf einen Glauben, der von der Offenheit für einen unverfügbaren Anderen und in der akzeptierten Differenz von Gott und anderen Lebensentwürfen geprägt ist.
1Beide Zitate: M. de Certeau, GlaubensSchwachheit . Stuttgart 2009, 249.
NNachfolge
Stefan Kiechle SJ | Frankfurt a. M.
geb. 1960, Dr. theol., Chefredakteur der Kulturzeitschrift „Stimmen der Zeit“, Beauftragter des Jesuitenordens für ignatianische Spiritualität, Beiratsmitglied von GEIST & LEBEN
stefan.kiechle@jesuiten.org
Bruch und Umkehr
Vor 500 Jahren wurde Ignatius von Loyola verwundet
Am 20. Mai 1521, vor 500 Jahren, kämpfte Iñigo de Loyola, ein etwa 30-jähriger baskischer Ritter, bei Pamplona mit einer kleinen Schar von Mitstreitern gegen ein übermächtiges französisches Heer (vgl. BP 1) 1. Der Kampf war eigentlich aussichtslos, aber Iñigo, der Anführer, wollte sich heldenhaft auszeichnen und animierte seine Mitstreiter, den Kampf doch zu wagen. Gleich zu Beginn wurde Iñigo durch eine feindliche Kanonenkugel, die eines seiner Beine zerschlug und das andere verletzte, schwer verwundet. Weil der Anführer ausgefallen war, ergab sich die Gruppe dem Gegner. Sie wurde gut behandelt, und Iñigo wurde zur Genesung auf sein elterliches Anwesen in Loyola gebracht. Dort begann ein spiritueller Prozess, der sein Leben radikal verändern und Jahrzehnte später die dringend nötige Reform der Kirche voranbringen sollte.
Durch einen äußeren und sehr brutalen Eingriff war sein bisheriges Leben zerbrochen. Vorher war Iñigo ein „den Eitelkeiten der Welt ergebener“ junger Mann (BP 1), draufgängerisch, ehrsüchtig, stolz. Bei Hof wollte er den Frauen gefallen und seine Karriere als Ritter weitertreiben. Dazu hätte er aber gesund sein müssen und gut aussehen und ein guter Kämpfer sein. Die Kanonenkugel zerbrach ihm alles. Zur Rekonvaleszenz musste er nun zuhause für Monate das Bett hüten. Weil die zersplitterten Knochen schräg abstanden, ließ er sie, vor allem aus Eitelkeit, „operieren“, also absägen – eine fürchterliche Tortur in damaliger Zeit. Zwischenzeitlich war er dem Tod nahe, rief aber den heiligen Petrus an, und am nächsten Tag ging es ihm wieder etwas besser (BP 3). Auf dem langen Krankenlager begann für ihn ein Weg der inneren Umkehr.
Durch den Bruch völlig aus der Bahn geworfen, entstand in ihm eine äußere und innere Leere. In den Monaten des Nichtstuns war er vor die Alternative gestellt: Er könnte sich mit Ablenkungen zerstreuen, die inneren Nöte überspielen und alles daransetzen, möglichst bald in sein altes Leben zurückzukehren, um dieses mit neuer Kraft weiterzuführen. Oder er könnte die Leere aushalten und Neues in sich und in seiner Umgebung suchen und finden, um dann zu neuen Ufern aufzubrechen. Der Bruch war ihm von außen zugefügt worden – die Entscheidung, was er aus ihm machen würde, musste er selbst treffen und verantworten. Die moderne Frage, warum Gott einen solchen Bruch zulasse oder gar zufüge und warum gerade ihm, stellte er nicht. War der Bruch Wille Gottes? War Gott an ihm in irgendeiner Weise beteiligt? Oder war er einfach nur Folge seines letztlich eitlen Draufgängertums, also seiner Sünde? Damals hat man solche Schicksalsschläge wohl eher hingenommen, sie kamen ja noch viel häufiger vor als heute, und man schaute gleich wieder nach vorne: Was ist daraus zu machen? Wohin führt Gott mich durch den Bruch? Was ist jetzt sein Wille für mich? Paradoxerweise habe ich Gottes Willen durch meine freie Entscheidung zu wählen und umzusetzen. Auch die Geduld des Wartens brachte man wohl eher auf – man konnte nicht so viel machen wie heute, war es eher gewohnt, dass das Leben auch leere Zeiten in sich birgt und dass aus diesen Frucht wächst.
Iñigo wollte sich mit Ritterromanen zerstreuen, aber es gab keine auf Schloss Loyola. Also las er die Bücher, die er vorfand: Heiligenbiographien und ein dickes Werk über das Leben Jesu 2– auch in den folgenden Entscheidungen ließ er sich damit von außen zumindest anregen. Gut dokumentiert ist sein innerer Weg (BP 6f.): In stundenlangen Tagträumen stellte er sich vor, in sein weltliches Leben zurückzukehren, mit Lust und Freude. Dann kamen ihm, angeregt durch die geistliche Lektüre, andere Fantasien: Er könnte leben wie die Heiligen, arm, als Büßer und Bettler; auch dabei empfand er Lust und Freude. Allerdings stellte er einen Unterschied beider Fantasien fest (BP 8): Bei jener, wie die Heiligen zu leben, blieben Lust und Freude auch nach der Fantasie bestehen, bei jener des weltlichen Lebens fand er sich danach „trocken und unzufrieden“.
Aus diesem Unterschied schloss er, dass es Gottes Wille sei, zu leben wie die Heiligen. Dieser erste Einblick in die „Unterscheidung der Geister“ lehrte ihn, dass ein nachhaltiger Trost, der auch nach der Übung andauert, eher der wahre und göttliche Trost ist. Er entschied sich nun, diesem Signal Gottes zu folgen, und änderte sein Leben. Als er einigermaßen gesund war, brach er von Loyola auf und wurde zum Pilger und Bettler. Eine Konversion und innere Umkehr hatte begonnen, angestoßen durch den Bruch, aber in freier Unterscheidung von ihm selbst ergriffen und umgesetzt. Hätte er ohne den Bruch je einen Anlass und die Muße gehabt, diesen inneren und äußeren Weg zu gehen?
Die weitere Geschichte braucht hier nur angedeutet zu werden 3: Nach dem Abschied von seiner Familie verließ er Loyola und kam nach Wochen der Wanderung – mit bleibend schwer beschädigtem Bein – zum berühmten Kloster Montserrat bei Barcelona. Dort legte er eine dreitägige Generalbeichte ab und hielt am 24./25. März 1522, dem Vorabend des Festes Verkündigung des Herrn, eine Nachtwache vor der Schwarzen Madonna, ein altes ritterliches Ritual der persönlichen Übergabe an die Gottesmutter. Er verschenkte, was er besaß, und ging ins nahegelegene Städtchen Manresa, wo er für etwa 11 Monate das Leben eines Bettlers und Beters führte.
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