»Ein Katholik war es«, berichtete Oliver mit abgespannter Miene. »Er muss übrigens schon mit der Absicht gekommen sein, denn sein Revolver wurde noch geladen vorgefunden. Nun, diesmal hat sich wenigstens kein Priester hineinmischen können.« —
Mabel nickte zustimmend; sie hatte durch die Plakate das weitere Schicksal des Mannes erfahren.
»Er wurde getötet, — in einem Augenblick war er niedergestampft und erwürgt«, sagte Oliver. »Ich tat, was ich konnte, ihr habt mich gesehen. Aber, — nun, vielleicht war es so besser für ihn.«
»Aber hast du auch alles getan, was in deinen Kräften stand, mein Lieber?«, fragte die Greisin mit Besorgnis aus ihrem Winkel her.
»Ich rief ihnen zu, Mutter, aber sie achteten nicht darauf.«
Mabel beugte sich vorwärts. —
»Oliver, ich weiß wohl, es klingt töricht, aber — aber lieber wäre es mir, sie hätten ihn am Leben gelassen.«
Oliver musste lächeln. Diese zarte Gemütsstimmung war ihm bei ihr nicht unbekannt.
»Vollkommener wäre es sicher gewesen, wenn sie ihn nicht getötet hätten«, sagte sie. Dann brach sie ab und lehnte sich zurück.
»Warum hat er denn gerade in dem Augenblick gefeuert?«, fragte sie.
Oliver sah einen Augenblick nach seiner Mutter hinüber, die aber in aller Ruhe mit ihrer Strickarbeit beschäftigt war.
Dann antwortete er mit eigener Bedachtsamkeit: »Ich sagte, dass Braithwaite mit einer einzigen Rede mehr für die Welt getan habe, als Christus mit allen seinen Heiligen zusammen.« — Er bemerkte, dass die Stricknadeln eine Sekunde ruhten; dann arbeiteten sie weiter, wie vorher.
»Aber jedenfalls hatte er die Absicht gehabt, die Tat auf alle Fälle zu vollbringen«, fuhr Oliver fort.
»Woher weiß man denn, dass er ein Katholik war?«, fragte seine Frau darauf.
»Einen Rosenkranz fand man bei ihm vor; auch hatte er gerade noch so viel Zeit, um seinen Gott anzurufen.«
»Und weiter weiß man nichts?«
»Weiter nichts, übrigens war er gut gekleidet.«
Oliver war ein wenig verstimmt, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Sein Arm schmerzte noch in fast unerträglicherweise. Aber im Grunde seines Herzens war er doch sehr glücklich. Allerdings war er von einem Fanatiker verwundet worden, doch bedauerte er keineswegs, für eine solche Sache leiden zu müssen, und es war außer Frage, dass die Sympathie ganz Englands sich ihm zuwandte. Zu dieser Stunde noch war Mr. Phillips im Nebenzimmer damit beschäftigt, die unaufhörlich einlaufenden Telegramme zu beantworten. Caldecott, der Premierminister, Maxwell, Snowford und ein Dutzend anderer hatten umgehend ihre Glückwünsche übersandt, und aus allen Teilen Englands kam eine Depesche um die andere. Es war ein ungeheuerer Vorteil für die Kommunisten; ihren Anführer hatte man angegriffen, während er seiner Pflicht genügte und für seine Grundsätze focht; für sie bedeutete es unschätzbaren Gewinn und einen Verlust für die Individualisten, dass Bekenner schließlich doch nicht nur auf der einen Seite zu finden waren. In ganz London hatten die riesengroßen elektrischen Plakate es in Esperanto schon verkündet, als Oliver bei einbrechender Dunkelheit den Zug bestieg.
»Oliver Brand verwundet … Mordanschlag eines Katholiken … Entrüstung des Landes … wohlverdientes Schicksal des Mörders.«
Auch war er zufrieden, dass er alles getan hatte, den Mann zu retten. Sogar in jenem Augenblick des plötzlichen und heftigen Schmerzes hatte er um Gerechtigkeit gebeten, aber es war zu spät gewesen. Er hatte es mit angesehen, wie die angsterfüllten Augen aus dem dunkelroten Gesichte traten, das sich zu einem entsetzlichen Grinsen verzerrte, als die rächenden Hände an seinem Halse würgten und rissen. Dann war das Gesicht verschwunden, und man begann mit Fußtritten dort weiter zu arbeiten, wo man es zuletzt gesehen hatte. Ja, Leidenschaft und Treue waren eben doch noch in England zu finden!
Bald darauf erhob sich seine Mutter und verließ wortlos das Zimmer; Mabel setzte sich zu ihm herüber und legte ihre Hand auf seine Knie.
»Bist du zu müde zum Sprechen, mein Lieber?«
Er öffnete seine Augen.
»Gewiss nicht, Liebling. Was gibt es?«
»Was glaubst du, werden die Folgen sein?«
Er richtete sich ein wenig auf und blickte, wie er es gewohnt war, hinaus in die Dunkelheit, hin auf dieses staunenswerte Schauspiel. Allenthalben flammten Lichter, ein Meer von sanftleuchtenden Kugeln schwebte über den Häusern, und darüber wölbte sich das geheimnisvolle, schwere Blau eines Sommerabends.
»Die Folgen?«, sagte er. »Sie können nur gut sein. Es war Zeit, dass einmal etwas geschah. Liebste, du weißt, ich fühlte mich manchmal sehr niedergedrückt. Nun, ich glaube, jetzt werde ich dieses Gefühl nicht mehr haben. Ich konnte mich manchmal der Furcht nicht erwehren, dass wir alle unseren Geist verlieren und dass die alten Tories teilweise recht hatten, wenn sie prophezeiten, was der Kommunismus zur Folge haben werde. Aber jetzt, nach diesem …«
»Nun?«
»Nun, wir haben gezeigt, dass wir sogar unser Blut zu vergießen imstande sind. Es kam auch alles wie gerufen, gerade in der Krisis. Ich will nicht übertreiben; es ist nur eine Schramme, — aber es war so wohl erwogen und — so dramatisch. Der arme Teufel hätte keinen ungeschickteren Moment wählen können. Das Volk wird es nicht vergessen.«
Mabels Augen glänzten vor Vergnügen.
»Du Armer«, sagte sie, »hast du Schmerzen?«
»Nicht besonders, übrigens macht mir das den wenigsten Kummer. Wenn nur diese elende Geschichte mit dem Osten erst vorüber wäre!«
Er fühlte, dass er fieberte und in gereizter Stimmung war, und bemühte sich, dies niederzuzwingen.
»O, meine Liebe«, fuhr er fort, während ihm die Röte ins Gesicht stieg, »wenn sie nicht solch verbohrte Narren wären; sie begreifen nicht, verstehen nicht!«
»Was, Oliver?«
»Sie begreifen nicht, wie erhaben das alles ist: Humanität, Leben, endlich Wahrheit und Untergang der Torheit! Aber habe ich es ihnen nicht hundertmal gesagt?«
Sie blickte ihn mit freudestrahlenden Augen an. Wie gern sah sie ihn so, seine zuversichtlichen, geröteten Züge, die Begeisterung in den blauen Augen, und das Bewusstsein, dass er litt, entflammte ihr Gefühl zur Leidenschaft. Sie beugte sich schnell vorwärts und küsste ihn.
»Liebster, ich bin so stolz auf dich, Oliver.«
Er erwiderte kein Wort, aber sie konnte sehen, was sie so gerne sah, jene innere Übereinstimmung, und so saßen sie schweigend da, während die Nacht sich langsam herabsenkte, und nur das Klappern des Schreibers im Nebenzimmer erinnerte sie daran, dass die Welt noch bestand und sie ihr angehörten.
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