Zu singen verstanden diese Londoner, daran war nicht zu zweifeln. Es schien, als ob eine gigantische Stimme die klangvolle Melodie summte und sich zum Enthusiasmus emporschwang, bis die Töne der vereinten Musikchöre ihr folgten, gleich einem Banner, das sich an die Fahnenstange anschmiegt. Es war eine vor etwa zehn Jahren verfasste Hymne, und schon war ganz England vertraut mit ihr. Die alte Mrs. Brand warf mechanisch einen Blick auf das Programm und sah die ihr so wohlbekannten Worte: »Der Herr, der wohnt in Land und Meer …« Sie durchlas die Verse, welche, vom humanitären Standpunkte aus betrachtet, mit Geschick und Eifer abgefasst waren. Sie hatten ein religiöses Gepräge; der ungebildete Christ konnte sie singen, ohne darüber Skrupeln zu bekommen, und doch war ihr Sinn klar genug, — der alte menschliche Glaube, dass der Mensch das All sei. Selbst Christi eigene Worte waren darin angewandt worden; das Königreich Gottes, hieß es, liege im Herzen des Menschen, und die größte aller Gnaden sei die Nächstenliebe.
Sie blickte auf ihre Schwiegertochter und sah, dass diese aus ganzem Herzen mitsang, während ihre Augen, aus denen ihre ganze Seele sprach, auf die etwa hundert Meter entfernte dunkle Gestalt ihres Gatten geheftet waren. Und so begann denn auch die Mutter, im Chor mit den singenden Tausenden die Lippen zu bewegen.
Als die Hymne verklungen war, und ehe der Beifall sich wieder erheben konnte, stand der greise Lord Pemberton an dem vorderen Rand der Plattform, und seine dünne, metallische Stimme übertönte mit einigen kurzen Worten das Plätschern der Springbrunnen hinter ihm. Dann trat er zurück, und Oliver trat an seine Stelle. —
Sie waren zu weit entfernt, die beiden, um zu unterscheiden, was er sprach, aber Mabel drückte mit einem nervösen Lächeln der alten Dame ein Stückchen Papier in die Hand und beugte sich dann lauschend nach vorn.
Die greise Mrs. Brand warf auch einen Blick darauf; sie wusste, es war ein Auszug aus der Rede ihres Sohnes, dessen Worte zu verstehen sie nicht imstande war.
Er begann, indem er als Einleitung alle Anwesenden beglückwünschte, die sich hier eingefunden hatten, um den großen Mann zu ehren, der von seiner Plattform aus selbst bei dieser großen Jubiläumsfeier den Vorsitz führte. Dann kam ein Rückblick, in dem er die ehemaligen Zustände Englands mit den heutigen verglich. Noch vor fünfzig Jahren, sagte der Redner, galt Armut als eine Schande, das sei nun vorüber. Nur in den Ursachen, die zur Armut führten, konnte man entweder Schande oder Verdienst erblicken. Wer würde nicht einen Mann ehren, der sich im Dienste seines Landes aufgerieben, oder der schließlich Umständen unterlag, gegen die er bis an sein Ende, wenn auch vergebens, gerungen hatte? … Er zählte die Reformen auf, die genau an diesem Tage vor fünfzig Jahren zur Annahme gelangt waren, und durch welche die Nation ein für alle Mal die Hoheit der Armut und das Mitgefühl der Menschheit mit den Unglücklichen aussprach.
Und so, sagte er, sei es heute seine Aufgabe, zum Preise der duldenden Armut und deren Belohnung zu sprechen, und dies, meinte er, zusammen mit einer kurzen Erwähnung des Gefängnisreformgesetzes, würde die erste Hälfte seiner Rede bilden. Der zweite Teil sollte ein Loblied auf Braithwaite sein, auf ihn, als den Herold einer Bewegung, die eben erst um sich zu greifen begann.
Die alte Mrs. Brand lehnte in ihrem Sessel zurück und schaute um sich.
Das Fenster, an welchem sie saßen, war für sie reserviert worden; ihre beiden Armstühle nahmen die Breite desselben ein, aber unmittelbar hinter ihnen standen andere Zuschauer, die in tiefem Schweigen, die Lippen erwartungsvoll geöffnet, mit gespannter Aufmerksamkeit die Köpfe nach vorn beugten; zuerst ein paar alte Damen mit einem Greis und hinter ihnen wieder andere Gesichter. Mrs. Brand fühlte durch deren unverkennbares Interesse einen leisen Vorwurf für ihre Zerstreutheit, und schnell entschlossen wandte sie ihre Blicke wieder dem Festplatze zu.
Ah, mit voller Begeisterung entwickelte er seine Lobrede! Seine kleine, dunkle Gestalt stand im Hintergrund, etwa einen Meter von der Statue entfernt, und eben, als sie hinblickte, erhob er seine Hand, wandte sich mit einer jähen Bewegung um, und brausender Beifall übertönte einen Augenblick die klare, klangvolle Stimme. Dann schritt er wieder nach vorne, halb kriechend — denn er war ein geborner Schauspieler —, und schallendes Gelächter ertönte unter der Menge. Sie vernahm hinter ihrem Stuhl ein verhaltenes Zischen und unmittelbar darauf einen Schrei ihrer Schwiegertochter … Was bedeutete dies? …
Ein Krach, und die kleine, gestikulierende Gestalt taumelte zurück. Der Greis am Präsidiumstisch sprang sofort auf, und im selben Augenblick gärte und wogte es unter der Menschenmenge unmittelbar außerhalb des abgegrenzten Raumes, wo die Musikchöre standen, und genau der Tribüne gegenüber, gleich der Brandung, die gegen den Felsen anstürmt.
Mrs. Brand, ganz außer sich und verwirrt, war aufgesprungen und klammerte sich an das Fenstergitter, während ihre Schwiegertochter sie krampfhaft am Arm packte und unverständliche Worte von sich stieß. Der ganze Platz war in Aufruhr, die Köpfe bewegten sich bald nach dieser, bald nach jener Richtung, wie ein vom Sturm gepeitschtes Ährenfeld. Oliver erschien wieder im Vordergrund, seine Hand deutete auf einen Punkt, und er rief erregte Worte aus; sie konnte genau seinen Bewegungen folgen, dann sank sie in ihren Lehnstuhl zurück, das Blut schoss durch ihre Adern, und es schien ihr, als müsste sie ersticken.
»Liebes, liebes Kind, was ist geschehen?«, schluchzte sie.
Aber auch Mabel war aufgesprungen und starrte ängstlich nach ihrem Gemahl hin; hinter ihr ließ sich trotz des wogenden Tumultes auf dem Platze ein lautes Durcheinander von Worten und Ausrufen vernehmen.
1 Die Entente cordiale (französisch für »herzliches Einverständnis«) ist ein am 8. April 1904 zwischen dem Vereinigten Königreich und Frankreich geschlossenes Abkommen. Ziel des Abkommens war eine Lösung des Interessenkonflikts beider Länder in den Kolonien Afrikas (»Wettlauf um Afrika«). <<<
Oliver erklärte ihnen abends zu Hause, in seinen Armstuhl zurückgelehnt, die ganze Geschichte; einer seiner Arme war verbunden und in einer Schlinge.
Es war ihnen nicht möglich gewesen, nach dem Vorfall in seine Nähe zu kommen, die Aufregung auf dem Platze war zu groß gewesen, aber man hatte seiner Frau einen Boten gesandt, durch den ihr mitgeteilt wurde, dass ihr Mann nur leicht verletzt sei und sich in ärztlicher Pflege befinde.
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