Der Herr auf der Galgenleiter
Hugo Bettauer
SAGA Egmont
Der Herr auf der Galgenleiter
Copyright © 1923, 2018 Hugo Bettauer und Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
All rights reserved
ISBN: 9788711503010
1. Ebook-Auflage, 2018
Format: EPUB 2.0
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Die grünen Jalousien schepperten im Wind, bogen sich schief ins Zimmer hinein, so daß ein greller Sonnenstrahl sich wie ein Dolch auf das Bett werfen konnte. Die tiefen Atemzüge des Schläfers pausierten, es knackte und wälzte sich im Bett, ein Männerarm erhob sich, wie um den sengenden Strahl abzuwehren, und schlaftrunkene Augen hefteten sich halb noch im Traum auf die Uhr an der Wand gegenüber.
»Donnerwetter! Elf Uhr! Pfui Teufel!«
Eine schlanke Männergestalt in blauseidenem Pyjama erhob sich und sprang mit beiden Füßen fast gleichzeitig aus dem Bett.
Gähnend reckte und streckte sich Lothar Leichtwag, einüber das anderemal die Bekundung ausstoßend: »Donnerwetter, elf Uhr!«
Endlich ganz in das reale Leben zurückgekehrt, schlüpfte der Langschläfer in die seidenen Pantoffel, die neben dem breiten Messingbett standen, griff nach dem Zigarettenetui aus Leder auf dem Nachtkästchen, warf es, da es sich als leer erwies, beiseite und durchschritt dann das Schlafzimmer, riß die Türe zum Herrensalon auf und rief gereizt: »Paul! Donnerwetter, wo steckst du denn?«
Aber schon hatte sich Lothar Leichtwag besonnen. Richtig, Paul steckte ja im Arrest! Gestern war der Schlingel, der ihn bestohlen, seine Zigaretten schachtelweise fortgeschleppt, seidene Strümpfe und Krawatten gemaust und schließlich sogar die schöne goldene Zigarettendose zu Geld gemacht hatte, auf seine Anzeige verhaftet und abgeführt worden. Lothar sah in diesem Augenblick wieder den todblassen Burschen vor sich, fühlte den flehenden Blick aus weinenden Augen und schüttelte sich, um die unangenehme Erinnerung los zu werden.
»Verdammter Schlingel! Hat es bei mir gut genug gehabt und wirklich nicht notwendig, mich zu bestehlen. Geschieht ihm recht! Nun aber rasch rasiert und angezogen.«
Eins, zwei war der Gasofen im weiß gekachelten Badezimmer in Betrieb gesetzt, und schon brauste es kühl, lauwarm, heiß und dann kalt und kälter auf den sehnigen Körper nieder. Dicker Seifenschaum auf Backen und Kinn, eine neue Gilletteklinge eingespannt, frisch, jung und gesund lächelte Lothar sein Gesicht aus dem geschliffenen Spiegel entgegen. Ein paar Minuten später und er hatte die richtige silbergraue Krawatte aus Hunderten zum leichten blauen Cheviotanzug gewählt und stand fix und fertig zum Ausgehen bereit da. Nun nur noch die dünne Golduhr in die Westentasche geschoben und die Brieftasche eingesteckt. Lothar öffnete die kleine Tasche aus weichem schwarzem Saffianleder, machte ein verdutztes Gesicht und lachte dann hell auf.
»Abgebrannt, vollständig abgebrannt! Kein kleines und kein großes Geld! Himmel, haben die Brüder mich ausgeplündert! Richtig – nicht nur, daß ich die Million, die ich bei mir trug, im Bak verloren habe, außerdem gab ich ja meine Visitenkarte für einen recht ansehnlichen Betrag als Bon! Wieviel war es nur? Keine Spur von einer Idee! Na, werde mir das Geld schon wieder holen! Gut, daß ich noch ein paar Zehntausender in der Hosentasche hatte, sonst hätte ich mir nicht einmal mehr das Autotaxi nach Hause leisten können. Nun bin ich aber blank, wie schon seit meiner Studentenzeit nicht mehr. Na, macht nichts, hol ich mir halt bei Schwarzseher und Lustig ein paar Milliönchen. Schäbige Austrokronen nur, aber immerhin.«
Lotbar Leichtwag unterbrach den ungesprochenen Monolog und nahm das Hörrohr vom Telephon, das auf dem Schreibtisch stand.
»Bitte, Fräulein, verbinden Sie mich mit Vierhundertachtundsechzig bis Vierhundertsiebzig.«
Eine Pause, die Lothar benutzte, um im Kopf seine Fragen zu formulieren. Wie ließ sich heute die Börse an? Hatte man schon den ersten Kurs von Alpine? Und dann würde er dem Kassier sagen lassen, er möge fünf Millionen für ihn bereit halten.
Aber es meldete sich niemand, und geduldig legte er das Rohr wieder auf die Gabel.
»Hol der Teufel dieses Wiener Telephon! Na, in fünfzehn Minuten bin ich ohnedies dort und erledige alles mündlich.«
Es klopfte, und Frau Beschke, die Wirtin Lothars, von der er zwei Zimmer, Badezimmer und Dienerkammer abgemietet hatte, erschien irgendwie verlegen auf der Schwelle.
Lothar warf einen Blick auf den Abreißkalender.
»Richtig, der Erste heute und ich soll berappen, was? Müssen sich schon bis Nachmittag gedulden, vieledle Gönnerin. Wenn Sie mich umdrehen, fällt kein Heller aus meinen Taschen. Alles verjeut und verjuxt, meine Guteste!«
Frau Beschke wehrte ab. »Deshalb komm’ ich nicht, Herr Doktor, mein Geld ist mir bei Ihnen sicher genug. Nein, es ist wegen des Paul. Seine Mutter war vorhin hier und hat furchtbar gejammert und geweint. Der Polizeikommissär hat ihr gesagt, daß, wenn der Doktor die Anzeige zurückzöge, könnte man ein Auge zudrücken und ihn laufen lassen, weil er doch unbescholten ist und an seinem Fehltritt dieses schlechte Mädel schuld ist, das einen Narren aus ihm gemacht hat. Ich habe der armen alten Frau, deren Einziger der Paul ist, versprochen, ein Wort bei Ihnen einzulegen. Herr Doktor, schauen Sie, der Paul ist ja doch so jung, und wenn er erst einmal im Gefängnis war, dann ist er verloren.«
Doktor Lothar Leichtwag kniff unwillig und nervös die Augenbrauen zusammen.
»Mir tut er ja selbst leid, Frau Beschke, das können Sie mir glauben! Aber laufen lassen – das geht nicht. Das wäre ein Vergehen meinerseits gegen die Allgemeinheit, ein Vergehen, dessen ich mich als Jurist nicht schuldig machen darf. Wenn ich die Anzeige zurücknehme, so muß ich ihm noch obendrein ein Zeugnis ausstellen, und dann kann er auf dem nächsten Posten, den er bekommt, seine Diebereien fortsetzen, und ich trage die moralische Verantwortung. Nein, liebe Frau, er hat sich gegen unsere sozialen Gesetze vergangen und muß dafür büßen. Immerhin, bei der Verhandlung werde ich selbst als Zeuge Milderungsgründe vorbringen, so daß ihm nicht viel geschehen wird. Aber den Lauf der Gerechtigkeit laß ich durch die Sentimentalität eines schreibfaulen Polizeikommissärs, der gerne den Akt loswerden möchte, und durch die Tränen eines alten Weibes, das den Sohn besser hätte erziehen sollen, nicht hemmen.«
Seufzend zog sich Frau Beschke zurück, und Lothar Leichtwag tänzelte, die gelben Wildlederhandschuhe in der Rechten schwenkend, die Treppe hinab und schritt wie einer, der genau weiß, was er sich und anderen schuldig ist, die Schlösselgasse entlang nach der sonnendurchglühten Alserstraße, um, wie er launig zu sich sagte, auf nüchternen Magen ein paar Millionen aus den Kassenräumen seiner Bankiers, der Herren Schwarzseher & Lustig, zu sich zu nehmen.
Vor dem Haupttor des Landesgerichtes stieß Lothar Leichtwag mit dem Rechtsanwalt Zeisel zusammen, der in fliegender Hast, schwitzend, verstaubt, versorgt, eine mächtig angeschwollene Aktenmappe unter dem Arm, das Gebäude betrat.
»Servus, Leichtwag!«
»Servus, Zeisel!«
Ein musternder, neidischer Blick, dann war Zeisel unter dem dunklen Tor verschwunden.
»Wieder einer, der dumm genug ist, sich für nichts abzurackern und innerlich Gift und Galle gegen mich spuckt, weil ich eben nicht so dumm bin wie er. Jeder hat heutzutage die Möglichkeit, die holde Fortuna beim Schopf zu packen, wenn er nicht noch blinder ist, als die launische Göttin.«
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