Auch schaute er, wie kein Wort vom Himmel würde herabgesprochen werden, selbst den Engeln war befohlen, das Schwert in die Scheide zu stecken und der ewigen Geduld Gottes zu harren, denn der Todeskampf hatte kaum erst begonnen; tausenderlei Schrecken standen noch bevor, ehe das Ende eintreten sollte, die Fülle der Kreuzigung … Ihm war nur beschieden, zu wachen und zu warten und sich damit zu begnügen, dabeizustehen und den Dingen ihren Lauf zu lassen, und die Auferstehung sollte für ihn nur eine Hoffnung sein, eine Hoffnung, von der er nur träumen durfte. Noch musste erst der Sabbat kommen, währenddessen der mystische Leib in seinem dunklen Grabe zu liegen hatte, und selbst die Würde des Kreuzes musste entschwinden und die Kenntnis, dass Jesus gelebt hatte. Diese innere Welt, zu der er nach langer Mühe den Weg gefunden hatte, war gänzlich mit Todesangst erfüllt, die Bitterkeit der Tränen herrschte dort und jener fahle Glanz, den nur der äußerste Schmerz hervorruft; in seinen Ohren gellte es in einem Ton, der sich bis zum Angstschrei steigerte, … er fühlte sich niedergedrückt, sein Innerstes durchbohrt, auseinandergerissen, wie auf einer Folter …
»Herr, ich kann es nicht ertragen«, stöhnte er.
Da wusste er sich wieder an der Oberfläche des Lebens, die Not seiner Seele äußerte sich in tiefen Atemzügen. Seins Zunge berührte seine Lippen, und seine geöffneten Augen fanden sich der in Dunkel gehüllten Apsis gegenüber. Die Orgel war verstummt, und der Chor leer und die Lichter erloschen. Die glühenden Farben der untergehenden Sonne waren verschwunden, und mit strenger, kalter Miene blickten die Statuen und Bilder hernieder. Er gehörte wieder der Erdenwelt an; was er geschaut, war zerflossen, kaum war er sich noch bewusst, was er gesehen hatte.
Aber er musste die einzelnen Fragmente seiner Erinnerung zusammenstellen und mit seinen Denkkräften verarbeiten. Auch er musste dem Herm, der sich sowohl seinen Sinnen, als auch seinem Herzen mitgeteilt hatte, seinen Tribut dafür bezahlen. So stand er denn auf, steif und gezwungen, und schritt hinüber zur Kapelle des heiligsten Sakramentes.
Als er aus den Reihen der ihn umgebenden Stühle ruhig und aufrecht heraustrat, das Birett wieder auf dem weißen Haar, bemerkte er eine alte Frau, die ihn aufmerksam beobachtete. Er zögerte einen Moment, ungewiss, ob sie etwa zu beichten wünschte, und da sie dieses Zögern gewahrte, schritt sie auf ihn zu.
»Verzeihen Sie, Herr«, begann sie.
Es schien also keine Katholikin zu sein. Er lüftete sein Birett.
»Kann ich etwas für Sie tun?«, fragte er.
»Verzeihen Sie, Herr, aber waren Sie in Brighton, bei dem Unglück vor zwei Monaten?«
»Gewiss.«
»Ah, ich dachte es mir; meine Schwiegertochter sah Sie damals.«
Percy fing an, ungeduldig zu werden; es ärgerte ihn ein wenig, sogleich an seinem, zu seiner Jugend so stark kontrastierenden Haare wiedererkannt zu werden.
»Waren Sie dort, Madame?«
Zweifelnd und neugierig blickte sie ihn an, ihre alten Augen an seiner Figur auf- und abgleiten lassend. Dann sammelte sie sich.
»Nein, Herr, es war meine Schwiegertochter, — verzeihen Sie, Herr, aber —«
»Nun?«, fragte Percy und gab sich Mühe, die Ungeduld aus seiner Stimme fernzuhalten.
»Sind Sie der Erzbischof, Herr?«
Der Priester lächelte, sodass seine weißen Zähne zwischen den Lippen sichtbar wurden.
»Nein, Madame, ich bin nur ein einfacher Priester. Der Erzbischof ist Dr. Cholmondeley. Mein Name ist Percy Franklin.«
Sie sagte nichts, aber während sie ihn noch anblickte, machte sie einen etwas altmodischen Knicks, und Percy schritt der dunklen, reich geschmückten Kapelle zu, um seine Andacht zu verrichten.
1 Calvaria, die Schädelstätte (Übersetzung des hebräischen »Golgatha«) <<<
Die Unterhaltung der Priester beschäftigte sich an jenem Abend bei Tisch sehr lebhaft mit der außerordentlichen Ausbreitung des Freimaurertums. Seit vielen Jahren hatte dieses nun zugenommen, und die Katholiken waren sich der Gefahren desselben vollkommen bewusst, denn die Zugehörigkeit zu dieser geheimen Gesellschaft war durch deren unzweideutige Verdammung durch die Kirche unvereinbar geworden mit dem Glauben. Es blieb dem Menschen nur die Wahl zwischen jener und seinem Glauben. Die Entwicklung war während des letzten Jahrhunderts eine außerordentliche gewesen. Zuerst hatte der organisierte Angriff auf die Kirche Frankreichs stattgefunden, und was die Katholiken längst vermutet hatten, wurde dann zur Gewissheit durch die Enthüllungen des Jahres 1918, die P. Gerome, ein Dominikaner und ehemaliger Freimaurer, über die Loge gemacht hatte. Da war es offenkundig geworden, dass die Katholiken recht hatten, und dass die Loge, wenigstens in ihren höheren Graden, allenthalben verantwortlich war für die auffallende Bewegung gegen die Religion. Wohl war der Eindruck auf die öffentliche Meinung ein gewaltiger, aber P. Gerome, sein Urheber, war bald darauf gestorben. Dann kamen die großartigen Spenden in Frankreich und Italien an Spitäler, Waisenhäuser und für ähnliche Zwecke, und wiederum begann der Verdacht zu schwinden. Dadurch schien es — und dieser Anschein hatte auch bis jetzt noch bestanden — seit siebzig Jahren und mehr, dass die Freimaurerei nichts als eine weitverzweigte, philanthropische Gesellschaft sei. Nun begannen von Neuem Zweifel daran aufzusteigen.
»Ich höre, dass Felsenburgh Freimaurer ist«, bemerkte Monsignore Macintosh, der Administrator der Kathedrale, »Großmeister oder so etwas.«
»Wer ist denn Felsenburgh?« warf ein junger Priester ein.
Monsignore schüttelte den Kopf.
»Er ist ein Geheimnis«, meinte ein anderer Priester, Father Blackmore, »aber er scheint große Aufregung hervorzurufen. Seine Lebensbeschreibung wurde heut auf dem Kai feilgeboten.«
»Vor drei Tagen«, warf Percy ein, »traf ich einen amerikanischen Senator, der mir sagte, dass selbst dort nichts von ihm bekannt sei, als seine außerordentliche Sprachgewandtheit. Er trat erst vergangenes Jahr hervor und scheint durch seine ganz ungewöhnlichen Methoden allein alles angeordnet zu haben. Dazu ist er ein bedeutender Linguist. Das ist auch der Grund, weshalb er nach Irkutsk mitgenommen wurde.«
»Ja, die Freimaurer, —«, fuhr Monsignore fort. »Es ist eine sehr ernste Sache. Im vergangenen Monat habe ich durch sie vier meiner Beichtkinder verloren.«
Читать дальше