Als Lias das Haus seiner Großtante Hermine betritt, spürt er sofort, dass hier etwas anders ist. Das Haus scheint ihn regelrecht zu rufen und zu locken. Und tatsächlich: Durch die einzelnen Räume gelangt Lias in fantastische Welten - in die Buchwelten seiner Großtante: auf die gefährlichen Meere, wo der Herr der Wellen das Sagen hat, zum Beispiel. Und ehe er sich's versieht, steckt Lias mitten in einem unvergesslichen Abenteuer, das alles von ihm abverlangt. Ein Feuerwerk der Fantasie mit unvergesslichen Figuren!
Für Uta Hermine Wummel
Eine unerwartete Stimme EINE UNERWARTETE STIMME Die Fensterläden des alten Hauses, das inmitten eines riesigen Gartens lag, öffneten sich wie von Geisterhand. Das Haus hatte eine Stimme gehört, die ihm unbekannt war. Und doch schien sie auf wundersame Weise vertraut. Es war eine Stimme, die der Wind ganz unerwartet mit sich brachte. Und in der eine Geschichte sicher hervorragend klingen würde. Lebendig. Aufregend. Echt. Eine Stimme, die der Geschichte, in der das Haus selbst steckte, womöglich eine Wendung zum Guten geben konnte. Es spürte das sofort. Und schöpfte Hoffnung für sich. Vor allem schöpfte es Hoffnung für seine Besitzerin. Vielleicht würde doch noch alles ein gutes Ende nehmen. Das richtige Ende. Auch wenn es bis eben nicht danach ausgesehen hatte. Die Stimme gehörte einem Jungen, der mit missmutiger Miene hinter zwei Erwachsenen über den Kiesweg vom Tor auf den Eingang zuschlich und aussah, als wäre er am liebsten an jedem anderen Ort der Welt. Nur nicht hier. Den Mann kannte das Haus nicht. Die Frau war ihm hingegen bekannt. Aus einer früheren Zeit. Doch sie besaß nicht das Talent, das in dem Jungen schlummerte. Das geweckt werden musste. Das in seiner Stimme schwang. Das Haus öffnete seine Eingangstür einen Spaltbreit. Wieder hörte es die Stimme. Sie war ganz leise, doch das Haus verstand sie. »Ich will dort nicht wohnen«, flüsterte der Junge sich selbst zu. Ein Fensterladen quietschte traurig, und es klang wie ein Seufzen. Nun, das war alles andere als ermutigend. Die Tür öffnete sich weiter. Es gab nur eine Hoffnung. Das Haus musste es schaffen, diesen Jungen zu seinem Verbündeten zu machen. Zu seinem Freund. Ihn willkommen heißen. Denn wenn er die Geschichte nicht zum richtigen Ende brachte, war alles verloren.
Willkommen
Eine knarrende und klirrende Nacht
Der Schlüssel
Sturmfresser
Die verschwundene Erzählerin
Neue Worte
Tonkarawane
Die Waffe eines Erzählers
Nixenland
Zu viele Köpfe
Die wundersame Geschichtenmaschine des Tüftlers
Angriff
Blaue Wüste
In der Fabrik der Worte
Der letzte Erzähler
Falsche Entscheidung
Retter der Worte
Die unvollendete Geschichte
Verkauft
Das richtige Ende
Zu Hause
Die Fensterläden des alten Hauses, das inmitten eines riesigen Gartens lag, öffneten sich wie von Geisterhand. Das Haus hatte eine Stimme gehört, die ihm unbekannt war. Und doch schien sie auf wundersame Weise vertraut. Es war eine Stimme, die der Wind ganz unerwartet mit sich brachte. Und in der eine Geschichte sicher hervorragend klingen würde.
Lebendig.
Aufregend.
Echt.
Eine Stimme, die der Geschichte, in der das Haus selbst steckte, womöglich eine Wendung zum Guten geben konnte.
Es spürte das sofort. Und schöpfte Hoffnung für sich. Vor allem schöpfte es Hoffnung für seine Besitzerin. Vielleicht würde doch noch alles ein gutes Ende nehmen. Das richtige Ende. Auch wenn es bis eben nicht danach ausgesehen hatte.
Die Stimme gehörte einem Jungen, der mit missmutiger Miene hinter zwei Erwachsenen über den Kiesweg vom Tor auf den Eingang zuschlich und aussah, als wäre er am liebsten an jedem anderen Ort der Welt. Nur nicht hier. Den Mann kannte das Haus nicht. Die Frau war ihm hingegen bekannt. Aus einer früheren Zeit. Doch sie besaß nicht das Talent, das in dem Jungen schlummerte. Das geweckt werden musste. Das in seiner Stimme schwang.
Das Haus öffnete seine Eingangstür einen Spaltbreit.
Wieder hörte es die Stimme. Sie war ganz leise, doch das Haus verstand sie.
»Ich will dort nicht wohnen«, flüsterte der Junge sich selbst zu.
Ein Fensterladen quietschte traurig, und es klang wie ein Seufzen. Nun, das war alles andere als ermutigend. Die Tür öffnete sich weiter. Es gab nur eine Hoffnung. Das Haus musste es schaffen, diesen Jungen zu seinem Verbündeten zu machen. Zu seinem Freund. Ihn willkommen heißen. Denn wenn er die Geschichte nicht zum richtigen Ende brachte, war alles verloren.
»Ist es nicht wundervoll?« Lias’ Mutter stand mit ausgebreiteten Armen auf der Schwelle des alten Hauses, das sie so unverhofft geschenkt bekommen hatte, und strahlte über das ganze Gesicht.
»Absolut«, pflichtete sein Vater ihr bei und stemmte die Hände in die Hüften. »Ich hoffe nur, dass niemand eingebrochen ist. Immerhin stand die Tür offen.«
»Ach was, eingebrochen«, lachte seine Mutter. »Das Haus freut sich auf seine neuen Besitzer.«
Genervt rollte Lias mit den Augen. Die beiden schienen so glücklich wie Gewinner im Lotto. Dabei sah das riesige Haus mit dem Garten so alt und heruntergekommen aus, als wäre es hundert Jahre alt. Ach was, tausend.
Lias blickte an der betagten Fassade hoch. Halb verwelkte Efeutriebe rankten an dem brüchigen Stein entlang. Vorbei an Dutzenden ungeputzten Fenstern, die sich über zwei Etagen unter dem spitzen Dach verteilten und von deren Läden die grüne Farbe abblätterte. Wie müde Augen blickten sie hinaus in den Garten, der so groß wie ein Park war und sogar einen dunklen See beherbergte. Hohe Kastanienbäume säumten das Grundstück, als wollten sie das heruntergekommene Haus verbergen. Dafür zogen sie hierher? Für diesen Kasten? Fort aus der Stadt, in der Lias aufgewachsen war und in der er jedes einzelne der bisher dreizehn Jahre seines Lebens verbracht hatte. Fort von den wenigen Freunden, die er hatte. Und fort von allem, was ihm vertraut war.
»Ich will dort nicht wohnen«, wisperte Lias zu sich selbst. Niemand interessierte sich für seine Worte. Niemand hörte sie. Seine Eltern waren viel zu glücklich, um auf ihn zu achten.
Seit Lias denken konnte, träumten sie von einem eigenen Haus. Und nun, nach dem unerwarteten Verschwinden von Lias’ Großtante und dem Anruf des Notars, der ihnen von der eilig verfassten Schenkung erzählt hatte, war es endlich so weit.
Widerwillig setzte Lias einen Fuß auf die unterste der drei steinernen Stufen, die hinauf zur Eingangstür führten. Eine seltsame Spannung lag auf einmal in der Luft. Ein Prickeln. Es fühlte sich an, als wäre ein Gewitter im Anflug. Lias blickte in den Himmel. Die Wolken zogen schneeweiß und träge über ihn hinweg. Es war ein friedlicher Tag. Nicht mal ein Windhauch fuhr durch die Kronen der mächtigen Kastanienbäume.
Lias nahm die letzten beiden Stufen und stand dann unschlüssig in der Tür. Seine Mutter und sein Vater waren bereits hineingegangen und sahen sich mit einer Mischung aus Aufregung und Bedrückung um. Lias konnte ein wenig nachvollziehen, wie sich seine Mutter fühlen musste. Lias wusste von seinem Vater, dass sie schon seit Jahren nicht mehr mit ihrer Tante Hermine geredet hatte. Sicher war es ziemlich seltsam für sie, nun wieder das Haus zu betreten, in dem sie als Kind viele Male die Ferien verbracht hatte.
Er selbst hatte seine Großtante noch nie zu Gesicht bekommen. Er hatte noch nicht einmal ein Bild von ihr gesehen. Seine Großtante hatte im Grunde nie für ihn existiert. Nur ein gesichtsloser Name, der gelegentlich in alten Geschichten vorgekommen war.
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