»Ist sie das?« Lias deutete auf ein gerahmtes schwarz-weißes Bild, das auf dem Schreibtisch stand. Es zeigte eine junge Frau mit dunklen Locken und einem selbstbewussten Blick, der so voller Leben steckte, als könnte sie es kaum erwarten, die Welt zu erobern.
Lias’ Mutter reckte den Kopf und nickte. Dann machte sie kehrt, ging in die Eingangshalle und stieg die knarrende Treppe des Hauses nach oben.
Er aber blieb noch einen Moment. Immerhin sah er seine Großtante zum ersten Mal. Wie seltsam sich das anfühlte. »Hallo«, wisperte er. »Ich bin Lias, dein Neffe.«
In diesem Augenblick schwang die halb offen stehende Tür in das Arbeitszimmer ganz auf. Komisch, dachte Lias. Seine Mutter war doch schon weg. Wieso hatte sich die Tür noch bewegt? Er zuckte mit den Schultern, folgte ihr hinaus und drückte die Tür hinter sich fest zu.
Der Plan seiner Eltern sah vor, dass Lias und sie beide zwei Zimmer von allen Erinnerungsstücken seiner Großtante befreien und dann bis zum Eintreffen des Möbeltransporters die Nächte dort in Schlafsäcken verbringen würden. Sie mussten sicher die ganzen Sommerferien damit zubringen, den Kasten halbwegs wohnlich herzurichten, wie Lias schnell erkannte. Sechs Wochen voller Staub und altem Kram. »Das hier ist ein blödes Museum«, murmelte er, während er in dem Zimmer, das er bewohnen sollte, Bücher über Bücher in Kisten packte.
Als wollte das Haus etwas darauf erwidern, quietschte seine Zimmertür traurig.
»Das habe ich nicht so gemeint«, wisperte er unwillkürlich. Wunderbar, dachte er bei sich. Jetzt rede ich schon mit einer Tür. Noch sechs Wochen hier und ich bin so verrückt wie meine Eltern. Kopfschüttelnd machte er weiter.
Das Quietschen aber hörte er nach seiner Entschuldigung nicht mehr.
Als sich Lias in dieser Nacht in seinen Schlafsack legte, hatte er bestimmt eine Tonne Staub eingeatmet. Seine Mutter hatte ihn gezwungen, in dem alten Bad mit den rosa Fliesen zu duschen, bloß weil seine braunen Haare so voller Schmutz gewesen waren, dass er aussah, als hätte er sich eine graue Perücke aufgesetzt.
»Was du als Erstes im neuen Haus träumst, wird in Erfüllung gehen«, hatte sie geflötet und ihm gegen seinen Willen einen Kuss aufgedrückt. Lias hatte seine Eltern lange im Zimmer nebenan miteinander aufgeregt tuscheln und Pläne schmieden hören. Er wollte noch einen Blick auf sein Handy werfen, doch er war zu müde, um aufzustehen, und bald schlief er ein.
Im ersten wieder wachen Moment glaubte Lias zu träumen. Dann aber blinzelte er den Schlaf aus den Augen und begriff, dass er im Haus seiner Tante war und irgendetwas ihn geweckt haben musste. Für einen Augenblick lag er nur da und horchte atemlos in die ruhige Nacht. Der Wind rauschte ganz sachte und irgendwo bellte ein Hund, doch er war so weit entfernt, dass Lias sicherlich nicht seinetwegen aufgewacht war.
Da! Ein Knarren. Als würde jemand auf eine der Stufen der alten Treppe treten. Vermutlich hatte ihn dieses Geräusch aus dem Schlaf gerissen. Lias fuhr hoch und sein Herz klopfte mit einem Mal schneller vor Aufregung.
Wieder das Knarren. Es schien, als würde jemand von der oberen Etage, in der sie schliefen, nach unten steigen. Vielleicht sein Vater, überlegte Lias. Die Schritte waren eher schwer und passten nicht zu seiner Mutter.
Er beschloss aufzustehen und nachzusehen. So leise, als wäre er ein Einbrecher, schlich Lias aus dem Zimmer. Er wagte nicht, den Lichtschalter zu betätigen. Was, wenn die Schritte doch nicht von seinem Vater stammten? Behutsam drückte er die Tür in das Schlafzimmer seiner Eltern auf. Er hörte sie sanft atmen. Beide.
Und wieder vernahm er das Knarren. Diesmal blieb sein wild klopfendes Herz beinahe stehen. Das Geräusch stammte definitiv nicht von seinem Vater.
Der Versuch, seine Eltern zu wecken, scheiterte kläglich. Sein Vater reagierte überhaupt nicht und seine Mutter murmelte nur etwas Unverständliches, als Lias an ihr rüttelte. Das Knarren aber zerschnitt einmal mehr die schläfrige Stille.
Er wagte nicht, drängender und lauter zu werden, aus Angst, denjenigen, der für das Geräusch verantwortlich war, auf sich aufmerksam zu machen. Überhaupt wusste er nicht, ob tatsächlich ein Fremder im Haus war. Alte Kästen wie dieser knarrten doch bestimmt ständig. Erst recht in einer ansonsten lautlosen Nacht. Oder?
Bis zum Treppenabsatz waren es nur wenige Schritte. Lias schlich hin und lugte nach unten. Der Mond goss Silber auf die Mosaikfliesen. Doch sosehr sich Lias auch mühte, er konnte niemanden erkennen. Ganz vorsichtig stieg er die Stufen hinab. Er wollte sehen, ob jemand dort herumschlich.
Die Eingangshalle war leer und verlassen. Augenblicklich fühlte sich Lias ebenso töricht wie erleichtert. Er hatte sich geirrt. Es war doch nur das Knarren eines alten Hauses gewesen, das …
Ein Klirren. Lias erstarrte.
Glas war zersplittert.
Er stand stocksteif da. Hatte jemand irgendwo ein Fenster aufgelassen? Der Wind war vielleicht hindurchgezogen und hatte ein Glas oder so etwas umgestoßen. Aber draußen schien es völlig ruhig, und Lias begriff, dass es nur eine Erklärung geben konnte: Jemand war im Haus.
Geh nach oben und warne deine Eltern, dachte er. Es wäre das einzig Vernünftige. Und das, was zu ihm passen würde. Lias war nicht besonders mutig. Im Gegenteil. In seiner Klasse, seiner alten Klasse, verbesserte er sich, galt er als Angsthase, der sich im Schullandheim sogar einmal vor seinem eigenen Schatten erschreckt hatte. Doch als er nun schwer atmend in die silbergefleckte Nacht lauschte, wunderte er sich über sich selbst. Er lief nicht weg. Lias konnte nicht sagen, weshalb er immer noch hier stand. Er machte einen ersten Schritt auf den Ursprung des Klirrens hin. Dann einen zweiten. Nur dorthin schienen seine Füße ihn tragen zu wollen.
Das Geräusch musste aus dem Arbeitszimmer gekommen sein. Die Tür stand offen. Lias runzelte die Stirn. Hatte er sie vorhin nicht fest zugedrückt? Ja, er war sich dessen sicher. Also hatte jemand sie wieder geöffnet. Lauf weg, Lias, sagte er sich. Doch er konnte nicht. Oder besser: Er wollte nicht. In diesem Moment verstand er, weshalb er nicht fortgelaufen war. Irgendwie schien es, als könnte ihm in dem alten Haus nichts Schlimmes widerfahren. Als wäre hier ein Freund an seiner Seite.
Vorsichtig betrat er das Zimmer. Ein Blick genügte, um zu erkennen, woher das Klirren gekommen war. Durch das Fenster über dem Schreibtisch schien der Mond kalt hinein. Sein Licht fing sich glitzernd in einigen Scherben, die auf dem Boden lagen: das Bild seiner Großtante. Wieso war es umgefallen? Einfach so. Von selbst. Vielleicht hatte es wacklig an der Kante des Schreibtisches gestanden.
Ein wenig mulmig wurde Lias nun doch zumute, aber in dem Zimmer war niemand, und er hörte auch keine Schritte.
Er bückte sich, hob das Bild auf und stellte es wieder an seinen Platz. Dann sah er aus dem Fenster in die fast tintenschwarzen Kronen der Kastanienbäume. In diesem Augenblick, mitten in der ersten Nacht in dem fremden Haus, fühlte er sich genau so. Fremd. Am falschen Ort. Ich wünschte, ich wäre wieder zu Hause, dachte er. Er hatte es die ganze Zeit gefühlt. Aber sich nicht getraut, es laut auszusprechen und es seinen Eltern in die vor Glück geröteten Gesichter zu sagen.
Er stand einen Moment da, dann wandte er sich um und ging. In der Tür blieb er noch einmal stehen und sah zu dem Bild hinüber. »Gute Nacht, Tante Hermine«, wisperte er. Wie seltsam es klang, sie so anzusprechen. Lias hätte sie gerne kennengelernt. Herausgefunden, wer die Frau war, die so unbeirrt ihren Weg gegangen war. Leise zog er die Tür hinter sich wieder zu. »Ich will nach Hause«, murmelte er, weil die Worte in seinem Herzen brannten und drohten, ihn zu ersticken.
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