Lias blieb auf der Schwelle stehen und lugte in die großzügige Eingangshalle. Das Licht fiel grau durch dreckige Fenster, floss träge über den Mosaikboden und erreichte mit Mühe eine breite Treppe, die nach oben führte. Es schien, dass sich die Tage, Wochen und Monate, die das Haus seit dem Verschwinden von Tante Hermine leer stand, wie Staub auf allem niedergelegt hatten. Dem schweren Geruch nach, der aus dem Flur drang, musste sich im Keller eine alte Ölheizung befinden. Lias konnte sich nicht recht überwinden, das Haus zu betreten. Er wusste selbst nicht warum. Plötzlich, als würde das Haus sein Zögern bemerken, schlug die Tür ruckartig zu und gab Lias dabei einen Stoß, der ihn über die Schwelle stolpern ließ. Ein Stapel alter Zeitungen, der auf einem Tischchen neben der Tür lag, wurde aufgewirbelt. Eines der Blätter schwebte direkt vor Lias’ Füßen zu Boden. Über einem Foto in der Mitte der Seite las er nur ein einzelnes Wort: Willkommen .
Wie passend, dachte Lias, als er langsam seinen Eltern folgte, die aufgeregt tuschelnd durch das Haus liefen.
Lias bemerkte nicht, dass die Haustür plötzlich wieder einen Spalt offen stand und die Sonne den Flur ein klein wenig erhellte, sodass er sehen konnte, wo er hintrat. Er bemerkte auch nicht, dass die Läden des Hauses aufgeregt klapperten, obwohl es draußen noch immer völlig windstill war. Und er sah nicht, dass sich die Tür zum Arbeitszimmer seiner Großtante selbst öffnete. Ganz so, als wollte das Haus ihn auf diesen Raum aufmerksam machen.
EINE KNARRENDE UND KLIRRENDE NACHT
Lias konnte sich nicht erinnern, je in einem Haus wie diesem gewesen zu sein. Das lag nicht einzig an der Größe, die ganz einfach beeindruckend war. Das Haus besaß mehr als ein Dutzend Zimmer, dazu kamen der Dachboden und ein weitläufiger Keller. Doch da war noch etwas anderes. Dieses ganze Gebäude schien … einzigartig. Lias’ Tante Hermine war Schriftstellerin. Und eine erfolgreiche dazu, wie seine Mutter beiläufig erwähnt hatte. Den dürren Worten nach, die sie über ihre Tante verloren hatte, musste Hermine eine ziemlich … ungewöhnliche Person sein. Nicht so, wie man sich eine über achtzig Jahre alte Dame vorstellte. Sie hatte nie geheiratet, was in ihrem Bekanntenkreis zu einigem Stirnrunzeln geführt hatte. Und sie hatte ein Auto besessen. Für eine ledige Frau war dies in ihrer Jugend unerhört gewesen. Dass sie aber einfach angefangen hatte zu schreiben, anstatt einen vernünftigen Beruf zu ergreifen, und dabei auch noch weitaus erfolgreicher geworden war als die meisten ihrer männlichen Kollegen, war für manche einfach zu viel gewesen und hatte ihr endgültig den Ruf eingebracht, seltsam zu sein. Eigensinnig. Völlig durchgeknallt. Da hatte es gepasst, dass sie von dem vielen Geld, das sie mit ihrem ersten Roman verdient hatte, dieses riesige Haus gekauft hatte. Ein Haus, das selbst für eine mehrköpfige Familie überaus großzügig wäre. Ein Haus, das, wie Lias bei seinem ersten Rundgang feststellte, wie eine einzige Erinnerung an ein Leben voller Geschichten schien. Vollgestopft mit Büchern, Notizzetteln, Andenken, Buchpreisen und allem, was jemand, der mit Leidenschaft geschrieben hatte, noch so ansammeln mochte.
Staunend durchstreifte Lias einen Raum nach dem anderen. Einige in einem abgelegenen Flur im Erdgeschoss aber konnte er nicht betreten. Die Türen waren allesamt verschlossen und über ihnen hingen hölzerne Schilder. Nur auf einem stand etwas geschrieben. Ein Name, der klang, als gehörte er eigentlich auf den Einband eines Buches.
»Kennst du diesen Titel?«, fragte Lias seine Mutter, nachdem er erfolglos an der Tür gerüttelt hatte.
» Der Herr der Wellen? Das erste Buch deiner Tante Hermine hieß so«, meinte sie in einem Ton, der klarmachte, dass sie der Sache keine nennenswerte Bedeutung beimaß. »Mit ihm ist sie auch direkt berühmt geworden. Eine weitere Erinnerung.« Sie tat, als ärgerte sie sich über die rührselige Sammelwut ihrer Tante, die sich so unerklärlich und ohne eine Nachricht aus dem Staub gemacht hatte. Doch Lias konnte ihr vom Gesicht ablesen, dass der Gang durch das Haus sie aufwühlte. Auch wenn sie schon seit Jahren den Kontakt zu Tante Hermine verloren hatte, fand sie viele Erinnerungsstücke aus ihrer eigenen Kindheit hier wieder. Lias’ Vater hatte ihm im Vertrauen zugeraunt, dass Tante Hermine für sie beinahe eine zweite Mutter gewesen war. Kein Wunder, immerhin war Hermine die Zwillingsschwester von Lias’ Oma. So kurz vor Mitternacht geboren, dass sie am 14. August und Lias’ Oma am 15. August zur Welt gekommen war. Dass Lias’ Uropa auch noch am 13. August Geburtstag gehabt hatte, musste in der Familie zu einem regelrechten Feiermarathon geführt haben.
»Warum hat sie sich eigentlich diesen riesigen Kasten gekauft?«, wollte Lias wissen. Er konnte nicht verstehen, weshalb ein einzelner Mensch in ein Haus zog, das so viele Zimmer hatte. Selbst wenn dieser Mensch scheinbar nichts wegschmeißen konnte.
»Es ist ein Haus voller Geschichten«, murmelte seine Mutter gedankenverloren. »Hermine hat immer gesagt, dass Geschichten einen Ort brauchen, an dem sie leben und atmen und wachsen können. Einen besonderen Ort, den man nur einmal im Leben findet.« Lias’ Mutter schien mehr mit sich selbst als mit ihm zu sprechen. Dies wurde ihr offenbar einen Augenblick später bewusst. Mit einem verschämten Lächeln sah sie zu Lias. »Die Zimmer, die an diesem Flur liegen. Ich erinnere mich, dass Tante Hermine mich nie hinter diese Türen hat blicken lassen. Sie sagte immer, dass dies der Teil des Hauses sei, in dem ihre Geschichten lebendig würden.« Sie rüttelte erfolglos an der Tür mit dem Schild. »Und die Schlüssel für diese Türen habe ich nicht. Vielleicht finden wir sie noch. Sonst müssen wir sie aufbrechen. Na gut«, meinte sie leicht genervt. »Darum kümmern wir uns später. Es gibt noch genug anderes zu tun.«
Lias’ Mutter hatte nicht übertrieben. Es gab Arbeit für Jahre. Und das selbst dann, wenn sein Vater handwerklich nicht ganz so ungeschickt gewesen wäre. Vor allem der Dachboden war eine Katastrophe. Die reinste Baustelle. Offenbar hatte jemand noch bis vor Kurzem an ihm gearbeitet und den halb fertig ausgebauten Raum dann mit einer Metalltür und einem dicken Schloss versehen. Man konnte nur durch einen Spalt zwischen Tür und Rahmen hineinlugen, denn auch hier fehlte der Schlüssel.
Zu den Räumen, die besonders vollgestopft waren, zählte das Arbeitszimmer. Lias kam es so vor, dass diejenige, die an dem großen Schreibtisch mit der alten Schreibmaschine vor dem Fenster gesessen hatte, jeden Moment wiederkommen, sich setzen und einfach weiterschreiben würde. Seine Mutter blieb in der Tür stehen. Sie wollte das Zimmer scheinbar unter keinen Umständen betreten. Als fürchtete sie sich vor den Gefühlen, die zurückkehren konnten. Hier gab es ganz besonders viele Erinnerungsstücke und Bücher. Überall klebten Zettel an den Regalen, auf die Hermine kurze Sätze gekritzelt hatte. »Ein Junge gerät während des Lesens buchstäblich in die Geschichte hinein und findet nur schwer wieder heraus«, entzifferte Lias die geschwungene Schrift mit Mühe.
»Tante Hermine hat immer Ideen für neue Geschichten auf Zettel geschrieben. Oder auf Kassenbons. Oder auf Einkaufslisten. Überallhin.« Ein leises Lächeln legte sich seiner Mutter auf die Lippen. »Einmal sogar in ein Klassenarbeitsheft unter meine Note, die ich ihr voller Stolz gezeigt hatte, als ich sie in den Herbstferien besucht habe. Wir haben uns gestritten, weil sie die Seite einfach herausgerissen hat, um die Idee nicht zu verlieren.«
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