»Vielen Dank für das nette … Angebot und Ihre Sorge. Aber ich denke, wir richten uns erst einmal ein«, sagte Lias’ Mutter.
»Keine Ursache«, erwiderte Balthasar. »Ich lasse mich ab und an mal blicken. War früher oft hier. Ich kenne die Geheimnisse des alten Schätzchens.« Er bedachte das Haus mit einem seltsamen Blick, in dem Sehnsucht und Abneigung miteinander zu ringen schienen. »Und ich kenne seine Schwachstellen. Seine vielen Schwachstellen. Es ist eine Baustelle für die Ewigkeit. Leider. Tatsächlich aber, wenn ich recht nachdenke, kenne ich jemanden, der einmal ein Auge auf das alte Schmuckstück geworfen hat. Diese Person ist bestimmt noch interessiert, es zu kaufen. Trotz der vielen, vielen Mängel. Denken Sie darüber nach. Sie werden sehen, wie viel Arbeit das gute Mädchen hier machen wird.«
In diesem Moment schlug einer der Fensterläden mit einem so lauten Krach zu, dass der Alte vor Schreck seinen Stock fallen ließ.
Als Lias die Stufe hinunterging, sich bückte und ihn aufhob, hielt ihn Balthasar mit einer Hand fest. Mit einer Hand, an der Lias nur vier schwielige Finger zählte.
»Man fühlt sich schnell fremd, wenn man sein Zuhause verlässt«, raunte er Lias leise zu. »Ich weiß, wovon ich spreche. Und ich kann dir das Heimweh vom Gesicht ablesen. Du solltest dich fragen, was du willst. Laut aussprechen, was du willst, bevor du an den unausgesprochenen Worten erstickst.« Er sah ihm einen Moment lang tief in die Augen, dann ließ er Lias los und klopfte ihm auf die Schulter. »Vielen Dank«, rief er eine Spur zu laut. »Du bist ein guter Junge.« Er sah zu Lias’ Mutter. »Ich muss dann mal wieder. Also, herzlich willkommen. Und wenn Sie merken, dass dies hier zu viel Arbeit bedeutet, sagen Sie mir Bescheid. Ich habe ein Telefon.« Er sprach das Wort so seltsam aus, als hätte er es erst vor Kurzem gelernt, und reichte Lias’ Mutter eine Karte, die diese mit einem höflichen Lächeln entgegennahm. Dann verabschiedete er sich und schlurfte den Weg zum Tor zurück.
»Was für ein seltsamer Kauz«, sagte Lias’ Mutter. »Als ob wir verkaufen würden.« Sie klang entschlossen, doch sie steckte die Karte ein. Lias kannte sie gut. Er hörte die mühsam verborgene Unsicherheit in ihrer Stimme. Der Alte hatte einen Zweifel in ihr gesät. Oder besser: einen Zweifel, der unbemerkt schon da gewesen war, mit seinen Worten genährt. Das Haus brauchte viel Arbeit. Damit hatte der Alte recht gehabt.
Ja, Lias, und nicht nur damit, sagte er sich. Auch mit dem Heimweh hatte er richtiggelegen. Balthasars Flüstern klang wie ein Echo in seinem Kopf. Laut aussprechen, was du willst, bevor du an den unausgesprochenen Worten erstickst .
Am Abend kam Lias’ Vater wieder nach Hause. Bestens gelaunt saß er an Tante Hermines langem Esstisch und erzählte so ausführlich von den Umzugsvorbereitungen, als sei für ihn damit ein Herzenswunsch in Erfüllung gegangen. Als könne er es gar nicht mehr erwarten, dass endlich die Möbel kämen und dieses alte Haus endgültig ihr Zuhause wurde.
Lias hörte nur mit einem Ohr dabei zu, wie sich seine Eltern ausmalten, in welchem der Zimmer welches ihrer Möbelstücke am besten zur Geltung kommen würde. Die Sorge um ihre Tante und die Zweifel daran, ob sie das Haus auf Vordermann bringen konnten, hatte Lias’ Mutter offenbar vergessen. Ebenso wie den Besuch des Alten. Sie hatte Lias’ Vater gegenüber kein Wort darüber verloren.
Doch Lias hatte Balthasar nicht vergessen. Und erst recht nicht das, was der Alte gesagt hatte. Laut aussprechen, was du willst, bevor du an den unausgesprochenen Worten erstickst . Ich will hier nicht wohnen, sagte Lias stumm zu sich. Mit einer gemurmelten Entschuldigung verließ er den Tisch, obwohl er kaum etwas gegessen hatte. Seine Eltern reagierten nicht einmal. Sie waren viel zu sehr darin vertieft, das Haus einzurichten. Ihr Haus.
Und was sollte Lias in dem Kasten tun? Er kam sich so verloren hier vor. Die Worte von Balthasar wirkten wie ein Gift in ihm.
Er wollte gerade die große Treppe hinauf in sein Zimmer steigen, als er die offen stehende Tür des Arbeitszimmers bemerkte. Meine Güte, dachte er, schloss die Tür eigentlich nie richtig? Mit einem Schritt war er bei ihr und wollte sie gerade zuziehen, da fiel sein Blick auf eines der Bücherregale. Die Abendsonne schien tiefrot auf die Rücken der Bücher, als wollte sie sie ins rechte Licht setzen. Als sollte Lias dorthin sehen. So ein Unsinn, sagte sich Lias und schüttelte den Kopf über einen derart verrückten Gedanken. Und dennoch ging er neugierig zu den Büchern, um sie zu betrachten.
Von den Romanen, die seine berühmte Großtante geschrieben hatte, kannte er keinen einzigen. Und das, obwohl er gerne las. Nun, das konnte er ändern. Er griff nach dem, der gerade genau im Licht der Abendsonne stand. »Der Herr der Wellen«, las er leise. Der Titel ihres ersten Buches, der auch über dem Raum stand, der sich nicht öffnen ließ. Das Bild auf dem Einband war ein wenig altertümlich. Ein Pirat mit einem Perlenauge am Steuer eines prächtigen Schiffes. Über ihm wehte eine schwarze Flagge mit einem Totenkopf.
In einer Ecke des Arbeitszimmers stand eine dunkle Ledercouch. Lias legte sich darauf und schlug die erste Seite auf. »Das Meer roch an diesem Morgen nach Abenteuern, Schätzen und Tod.« Lias las den Satz laut, um die dröhnende Stille in dem Haus mit Tönen zu füllen. Es war manchmal so furchtbar ruhig hier. Als würde das Haus stumm jemanden vermissen. Er las auch den zweiten auf diese Weise. Und den dritten. Die Worte waren wie ein Fluss, der ihn mit sich trug. Nach der zehnten Seite biss ihn die Abendsonne in die Augen. Ohne aufzusehen, beschattete er sie mit einer Hand. Doch dann klappte einer der Fensterläden gerade so weit, dass er das störende Licht fernhielt. War ein Wind aufgekommen, der ihn zugedrückt hatte? Lias wollte nicht aufsehen. Zu spannend war die Geschichte. Er tauchte hinein in das Meer aus Worten. Floh mit dem Herrn der Wellen aus der Gefangenschaft einer Königin namens Ehremin auf den Ozean hinaus und über einen tödlichen Strudel hinweg. Gelangte mit ihm auf das Schiff, dessen Kapitän er wurde und das er Glücksdame taufte. Kämpfte gegen fischschwänzige Frauen, fliegende Fische und verfeindete Seeräuber. Dabei meinte Lias, die Stimmen der Piraten zu hören. Das Rauschen des Meeres. Das Donnern der Kanonen. Das Buch erschien ihm echt wie die Wirklichkeit. Er nahm nichts anderes mehr wahr. Auch nicht, dass sich die Tür zum Arbeitszimmer schloss, als sollte Lias beim Lesen nicht gestört werden, während seine Eltern laut redend die Treppe hinaufstiegen.
Sehr viel später riss seine Mutter Lias aus der Geschichte heraus und scheuchte ihn erst in sein Zimmer und dann in seinen Schlafsack. Das Buch nahm er mit. Selten hatte ihm eine Erzählung so gut gefallen wie diese. Besonders angetan hatte es ihm der Junge, aus dessen Sicht die Geschichte erzählt wurde. Sila. Vielleicht mochte ihn Lias, weil der Junge so war, wie er selbst gerne wäre. Mutig und abenteuerlustig. Lias war nicht nur ein wenig ängstlich, sondern auch schnell außer Puste. Außerdem hatte Sila braune Haare wie Lias. Und ihre Namen waren einander so unerklärlich ähnlich. Dieselben Buchstaben. Ob seine Tante diesen Jungen für ihn …? Mach dich nicht lächerlich, sagte sich Lias sofort. Sie kannte dich nicht. Hat nie ein Wort mit dir gewechselt. Wie sollte sie da auf die Idee kommen, ihn nach dir zu beschreiben?
Seite um Seite las Lias in seinem Schlafsack weiter und folgte dem Schiff des Herrn der Wellen in einen Sturm hinein, der die Segel zerriss und in dessen Herzen eine furchtbare Gefahr lauerte. Lias fieberte so sehr mit, dass er wieder glaubte, das Rauschen des Meeres zu hören, während der Herr der Wellen nach einem Weg suchte, dem, was er im Herzen des Sturms gefunden hatte, zu entkommen.
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