Was die Sklaven natürlich nicht wussten. Ebenso wie der Hund rannten sie jetzt um ihr Leben, schlugen Haken und versuchten gleichzeitig, das Tier in Bewegung zu halten, wie Dakane es ihnen befohlen hatte. Jeder der Schützen kam mit zwei Pfeilen zum Zuge, einen auf den Hund, einen in Richtung der Sklaven, alles in schneller Reihenfolge, denn die Männer warteten bereits mit gespanntem Bogen auf ihren Einsatz.
Jetzt war Dakane wieder an der Reihe. Er hob den Bogen und schoss. Der Hund überschlug sich lautlos und blieb liegen. Der ältere Sklave schrie auf, als der zweite Pfeil seine Hand traf.
„Mist“, sagte Dakane mit breitem Grinsen. „Jetzt muss ich mir selbst ein Silberstück zahlen.“ Seine Stimme wurde wieder lauter. „Der nächste Hund!“
Akiana hatte genug gesehen. Dakane war jung und sah gut aus, ja, aber er war grausam und genoss die Angst anderer. Wenn ihr Bruder wirklich vorhatte, sie an diesen Mann zu vergeben, dann war es nur eine Frage der Zeit, bis Dakane sich irgendwann gegen sie wenden würde. Unwahrscheinlich, dass sie dann nicht auf ihre Zauberkräfte zurückgreifen würde. Danach wären sie beide tot. Dakane, weil sein Zaubererblut zu schwach war, um gegen sie zu bestehen. Und sie, weil ihr Bruder, sobald er von ihrer Aufsässigkeit hörte, sie umgehend in einen Spiegel wandeln würde.
Vielleicht wäre es besser gewesen, ihr Vater hätte sie noch vor dem Feldzug einem der älteren Adeligen als Gattin gegeben.
„Wirst du es versuchen?“
Na-Ochone warf seinem Cousin einen spöttischen Blick zu. „Was denkst du denn? Natürlich werde ich es versuchen. In dieser lausigen Wüstenfestung will ich jedenfalls nicht alt werden. Oder hast du etwa Lust, den Rest deines Lebens Skorpione zu erschlagen und den Wüstenkriegern lästig zu fallen?“
„Wir könnten sie ja auch einfach mal angreifen.“
„Hat schon mein Vater vergeblich versucht. Und mein Großvater. Und mein Urgroßvater. Und so weiter. Die Wüstenratten sind so wenig zu fassen wie die Trugbilder, die die Wüstenwinde herantragen.“
„Und jetzt meinst du, in der Hauptstadt kannst du es weiterbringen?“
„Zumindest sind dort mehr Frauen.“
Chatchio grinste. „Ist ja klar, dass du nur an Frauen denkst. Du solltest heiraten, dann legt sich das.“
„Pah!“ Na-Ochones Spucke landete einen halben Finger neben der einsamen Fliege, die an der Mauer saß.
„Hast auch schon besser gezielt!“
„Und du hattest besser argumentiert. Heiraten? Hier? Wen denn? Eine Bäuerin wie die, die dein Bett wärmt? Wenn ich meinen Nachkommen nicht ganz gewaltig Ärger machen will, brauche ich eine Adelige, das weißt du so gut wie ich. Und es sind einfach keine hier. Niemand will seine Tochter in diese götterverlassene Grenzfestung an einen völlig unbedeutenden Wappenträger verheiraten.“
„Und du meinst, das ändert sich, nur weil du einen Besuch in der Hauptstadt machst? Wenn überhaupt, bist du dort noch unbedeutender als hier.“
„Aber ich könnte die Aufmerksamkeit des Königs erringen.“
Chatchio wandte den Kopf ab und sah betont gleichgültig über die Mauerzinne. „Wenn ich mich richtig entsinne, hat der gleiche Versuch bei deinem Vater damit geendet, dass besagter König ihn rausschmiss und ihm für den Rest seines Lebens verbot, die Hauptstadt je wieder zu betreten. Na ja, immerhin hat er auf dem Rückweg noch eine halbwegs passable Frau auftreiben können.“
„Was ihn die Einnahmen von drei Regenzeiten gekostet hat.“
„Könnte dich noch mehr kosten, so, wie du aussiehst. Ich wette, deine Nase ist doppelt so groß wie die deines Vaters. Du bist hässlich.“
„Das nimmst du zurück!“
„Warum? Ich habe nur die Wahrheit gesagt!“
Er duckte sich gerade noch rechtzeitig weg, sodass Na-Ochones Faust ihn nur streifte. Im nächsten Moment rollten die beiden Cousins katzbalgend durch den Wüstenstaub, der die Turmplattform ebenso stetig bedeckte wie alles, was die Wüstenfestung enthielt.
Der alte Soldat, der auf dem zweiten Wachturm stand, schmunzelte. Junge Männer! Zu viel Kraft und zu wenig Verstand. Es war immer das Gleiche mit den jungen Leuten.
Aber zumindest war der junge Herr noch nicht so gebrochen, wie sein Vater es nach der Rückkehr aus der Hauptstadt gewesen war. Der junge Herr konnte noch lachen. Der alte Soldat schickte ein Stoßgebet zu den Göttern, dass es so bleiben möge. Im selben Moment heulte der Wind spöttisch auf.
Eigentlich war es nur ein Tagtraum von ihm gewesen. Aber jetzt, wo er es seinem Cousin gegenüber ausgesprochen hatte ... Der Gedanke an die Hauptstadt ließ Na-Ochone nicht mehr los. Und wenn es ihm so ging wie seinem Vater? Was hatten die Nahne eigentlich gegen die Mehme-Sippe, dass sie ständig so auf ihnen herumhacken mussten? Das konnte doch unmöglich noch mit dieser uralten Sache zu tun haben. Oder hatten die auch so ein bescheuertes Ritual wie die Mehme?
Na-Ochone konnte sich noch gut an den Tag erinnern, als er volljährig wurde, vor Stolz darüber fast platzend, wie es nur ein Vierzehnjähriger konnte. Sein Vater hatte ihn nach dem Ritual in der kleinen Tempelkapelle in seinen Arbeitsraum zitiert. Ein Raum, der noch hässlicher war als der Rest der Festung, wenn das überhaupt möglich war. Kahle graue Wände, davor lange Regale mit den Aufzeichnungen für das königliche Archiv und die Steuer. Aufzeichnungen, die seit mehr als sieben Generationen niemand mehr abberufen hatte. Kein Bild, kein Teppich, keine Feuerpfanne, nur ein schlichter hölzerner Schreibtisch mit einem ebenso schlichten hölzernen Stuhl vor dem Fenster.
Sein Vater hatte ihm die Geschichte seines Urahns Tiko erzählt, zum ersten, aber keineswegs zum letzten Mal. Immer wieder hatte er sie hören müssen. Schikanen, Demütigungen und jene letzte Zurschaustellung, als der König den Mehme wegnahm, was sie in den Grenzbergen so mühsam als prosperierendes Lehen aufgebaut hatten. Die Anordnung jenes neuen Wappens mit dem Falken, das ihnen bei jedem Anblick ihrer Banner noch einmal unter die Nase rieb, wie sehr sie versagt hatten. „Schwöre!“, hatte sein Vater finster gesagt. „Schwöre bei deiner Ehre und dem Blut deiner Familie, dass du alles daransetzen wirst, diese Schmach zu tilgen!“
Er hatte geschworen, auch wenn es ihm absolut schleierhaft war, wie er diesen Schwur jemals halten sollte.
Sein Vater hatte diese Sache jedes Jahr wiederholt, solange er lebte. Er hatte geschworen, jedes Jahr. Und sich mit jeder verstreichenden Regenzeit mehr gefragt, was dieser ganze Schwachsinn sollte. Nach so vielen Generationen hätte dieser Zwist längst begraben sein müssen.
Als sein Vater dann am Biss einer Lanzenotter starb und diese blöde Zeremonie damit endgültig aufhörte, nahm Na-Ochone sich jedenfalls vor, eine andere Lösung zu finden. Bloß, dass er keine Idee hatte, welche. Sein Vater musste beim König ziemlich viel verbrannte Erde hinterlassen haben, so vollkommen, wie seine Verbannung zurück an den Rand der Wüste gewesen war.
Na-Ochone lag mit offenen Augen auf seinem Nachtlager, starrte durch das glaslose Fenster hinaus in die sternengleißende Wüstennacht und träumte von sanften, anschmiegsamen, antilopenäugigen Frauen inmitten einer großen Stadt.
Die Schicksalsmächte schienen seinen Wunsch vernommen zu haben. Kein halbes Jahr später erreichten Gerüchte die Festung, dass der König tot sei. Achtzehn Tage später folgte der offizielle Bote. Sein Bericht klang verdächtig vage. Soweit Na-Ochone es sich aus den allgemeinen Gerüchten und den wenigen Brocken der offiziellen Informationen zusammenreimte, hatte der König sich auf einem Feldzug gegen die Nordländer im magischen Zweikampf gegen einen Schamanen derart verausgabt, dass seine restliche Lebensenergie wenige Tage später erlosch. Sein ältester legitimer Sohn Ajitaka war wenige Tage nach der Einäscherung in einer pompösen Zeremonie der neue Herrscher Karapaks geworden.
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