Hinweis: Die unterschiedliche Behandlung von Raub (§ 249 StGB) und Freiheitsberaubung (§ 239 StGB) rechtfertigt sich dadurch, dass Gewaltanwendung eine körperliche Einwirkung voraussetzt und daher vom Opfer körperlich empfunden werden muss, während dies bei der Freiheitsberaubung gerade nicht der Fall ist. Deshalb muss bei § 249 StGB die „Barriere“ erkannt worden sein, während dies bei § 239 StGB nicht gilt.
2. Freiheitsberaubung in sonstiger Weise
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Hierbei kommen alle denkbaren Verhaltensweisen in Betracht, die das Opfer daran hindern, seinen Aufenthaltsort zu verändern (z. B. Wegnahme eines Rollstuhls, den das Opfer zur Fortbewegung benötigt; Festhalten des Opfers; Betäubung des Opfers).
Auch hier ist nicht erforderlich, dass das Verlassen des Aufenthaltsortes unmöglich ist, sondern es genügt vielmehr, dass es nach den Umständen unzumutbar ist (z. B. Wegnahme der Kleidung, sodass ein Nacktbadender nicht das Wasser verlassen kann, oder schnelles Fahren, sodass der Beifahrer das Fahrzeug nicht ohne erhebliche Verletzungsgefahren verlassen kann).[94]
Eine Freiheitsberaubung in sonstiger Weise liegt auch bei einem garantenpflichtwidrigen Unterlassen der Befreiung vor.[95]
Beispiel:Supermarktinhaber S hat versehentlich einen Kunden eingeschlossen. Als er hinter sich dessen Rufe hört, denkt er sich „selber schuld, aber morgen komme ich ja wieder“. Hier begeht er eine Freiheitsberaubung durch Unterlassen, da er aus Ingerenz garantenpflichtig gegenüber dem Kunden ist.
3. Tatbestandsausschließendes Einverständnis
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Nach h. M. setzt der Tatbestand der Freiheitsberaubung in beiden Alternativen (Einsperren bzw. Beraubung der Freiheit in sonstiger Weise) ein Handeln gegen den Willen des Betroffenen voraus, sodass die Einwilligung bereits den Tatbestand ausschließt (begrifflich spricht man dann von einem tatbestandsausschließenden Einverständnis).[96] Ob dies allerdings auch im Falle des durch Täuschung erschlichenen Einverständnisses gilt, ist umstritten.[97] Allerdings sollte es hier – wie schon bei der Einwilligung – darauf ankommen, ob der Getäuschte die rechtsgutsbezogene Komponente erkannt hat.
Beispiel 1:A lässt sich von B einsperren, weil dieser ihm vorspiegelt, ihm für die Einsperrung 1000 € zu zahlen. Wie von Anfang an beabsichtigt, verweigert B später die Zahlung.
Lösung:Hier liegt keine Freiheitsberaubung vor, weil A die rechtsgutsbezogene Komponente des Vorgangs hinreichend erkannt hat (er wusste, dass er eingesperrt wird, und hat auf sein Rechtsgut Freiheit im Umfang der Einwilligung verzichtet).
Beispiel 2:A willigt in die Einsperrung ein, weil B ihm vorspiegelt, er würde ihn nach fünf Minuten wieder freilassen. In Wahrheit lässt B den A fünf Stunden in seinem „Gefängnis“ schmoren.
Lösung:Hier unterlag A einem rechtsgutsbezogenen Irrtum, weil ihm der Umfang des Freiheitsverlustes nicht bewusst war. In diesem Fall ist also § 239 StGB verwirklicht, soweit die Freiheitsberaubung über fünf Minuten hinaus andauerte.
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Als Rechtfertigungsgründe kommen neben der Notwehr vor allem erlaubte Selbsthilfe nach § 229 BGB sowie das vorläufige Festnahmerecht nach § 127 I S. 1 StPO in Betracht.
5. (Erfolgs-)Qualifizierte Tatbestände
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Zu beachten ist, dass es sich bei § 239 III Nr. 1 StGB um eine Form der qualifizierten Freiheitsberaubung handelt, sodass sich der Vorsatz des Täters auf die lang andauernde Freiheitsberaubung beziehen muss, während § 239 III Nr. 2 und § 239 IV StGB sog. erfolgsqualifizierte Delikte sind, sodass hinsichtlich der Freiheitsberaubung Vorsatz und hinsichtlich der in diesen Vorschriften geforderten schweren Folge nur Fahrlässigkeit erforderlich ist (§ 18 StGB).[98] Die Auffassung, dass auch § 239 III Nr. 1 StGB ein erfolgsqualifiziertes Delikt sei, sodass hinsichtlich der einwöchigen Dauer Fahrlässigkeit genüge, lässt sich nach dem Wortlaut der Vorschrift nicht mehr halten.[99]
D. Erpresserischer Menschenraub und Geiselnahme nach §§ 239a, 239b StGB
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Bitte lesen Sie sich zunächst im Gesetz diese qualifizierten Fälle im Rahmen der Freiheitsdelikte genau durch![100]
Merkenmuss man sich sodann, dass sich der BGH um eine einschränkende Auslegung der §§ 239a, 239b StGB bemüht hat.
Zunächst ist der BGH dabei davon ausgegangen, dass diese Vorschriften nicht anwendbar sind, wenn das bloße Sichbemächtigen oder Entführen unmittelbares Nötigungsmittel für eine Vergewaltigung, sexuelle Nötigung oder räuberische Erpressung ist und eine über das so begründete Gewaltverhältnis zwischen Täter und Opfer hinausreichende Außenwirkungdes abgenötigten Verhaltens nach der Vorstellung des Täters nicht eintreten soll. Bemächtigt sich der Täter des Opfers oder entführt er es allein zu dem Zweck, es zu vergewaltigen, sexuell zu nötigen oder zu erpressen, und verwirklicht er diese Absicht innerhalb des genannten Gewaltverhältnisses, so sei er nur nach §§ 177, 178 oder §§ 253, 255 StGB zu bestrafen.[101]
Der sodann mit dem Verhältnis zwischen §§ 239a, 239b StGB einerseits und §§ 177, 178 sowie §§ 253, 255 StGB andererseits befasste Große Senat des BGH[102] urteilte jedoch anders: Ihm zu Folge ist die Anwendung des § 239b I Hs. 1 StGB nicht von vornherein ausgeschlossen in Fällen, in denen der Täter sein Opfer zum Zwecke einer Vergewaltigung oder sexuellen Nötigung entführt oder sich seiner bemächtigt. Die Vorschrift setzt voraus, dass der Täter beabsichtigt, die durch die Entführung oder das Sichbemächtigen für das Opfer geschaffene Lage in funktionalem und zeitlichem Zusammenhang[103] zur qualifizierten Drohung auszunutzen und durch sie zu nötigen.
Beispiel:A, der als Beschuldigter zu einer polizeilichen Vernehmung geladen worden war, ging davon aus, dass ihn C verraten hatte. Deshalb beschlossen A und sein Freund B, den C dafür zu strafen. Entsprechend ihrem gemeinsamen Tatplan zerrten sie den C mit Gewalt in den Wagen des A und fuhren mit ihm in einen Wald. Dort schlug A ihn zu Boden, woraufhin B ihn an beiden Armen hochzog und festhielt. A schnitt dem C mit einem Messer ein „V“ für „Verräter“ deutlich sichtbar in die Brust. Dabei forderten sie ihn auf, die Angaben bei der Polizei zurückzuziehen und künftig zu schweigen.[104]
Lösung:Der BGH hat hier die Verwirklichung einer gemeinschaftlich begangenen Geiselnahme nach §§ 239b I Alt. 1, 25 II StGB verneint, da C auf die Drohung und Aufforderung von A und B, seine Angaben zurückzuziehen und künftig zu schweigen, noch während der andauernden Bemächtigungslage keine entsprechende zusagende oder sonst zustimmende Erklärung abgegeben habe. Daher fehle es am erforderlichen funktionalen Zusammenhang, der nur dann gegeben ist, wenn der Täter die Bemächtigungslage zur qualifizierten Drohung ausnutzt, um durch sie zu nötigen. Gegeben sind jedoch im vorliegenden Fall die Tatbestände der mittäterschaftlichen Freiheitsberaubung (§§ 239 I Alt. 2, 25 II StGB), der mittäterschaftlichen Nötigung (§§ 240, 25 II StGB), der mittäterschaftlichen gefährlichen Körperverletzung (§§ 224 I Nr. 2 u. 4, 25 II StGB) sowie wegen der entstellenden Vernarbung der schweren Körperverletzung (§§ 226 I Nr. 3, II, 25 II StGB).
Darüber hinaus stellt der Große Senat im Zweipersonenverhältnis besondere Anforderungen an die Bemächtigungssituation, um zu verhindern, dass §§ 239a, 239b StGB mit ihrer Mindeststrafe von 5 Jahren andere Freiheitsdelikte, wie z. B. § 177 StGB, im Hinblick auf die Strafbedeutung gänzlich verdrängen und um zu vermeiden, dass z. B. der Täter, der sich seines Opfers durch Vorhalten einer Pistole bemächtigt, es aber noch nicht zu einer bestimmten Handlung aufgefordert hat, nicht nur wegen versuchter Nötigung, sondern wegen vollendeter Geiselnahme strafbar ist. Zur Korrektur dieser kriminalpolitischen Unzuträglichkeiten schränkt der Große Senat die Tatbestände der §§ 239a, 239b StGB vor allem in den Fällen des Sichbemächtigens in der Weise ein, dass er verlangt, dass der Bemächtigungssituation „eigenständige Bedeutung“zukommt. Anders als die Entführung schaffe das Sichbemächtigen vielfach keine derartige Lage; denn eine Lage, die ausgenutzt werden soll, setze eine gewisse Stabilisierungvoraus, was nicht der Fall sei, wenn der Vergewaltiger oder räuberische Erpresser nur mit vorgehaltener Pistole zum Geschlechtsverkehr oder zur Herausgabe von Geld zwingt, da hier die abgenötigte Handlung ausschließlich durch die Bedrohung mit der Waffe durchgesetzt wird, ohne dass der Bemächtigungssituation eigenständige Bedeutung zukommt.
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