b) Subjektivhandelte A auch vorsätzlich.
2. Rechtfertigungsgründesind wie im Ausgangsfall (s. dort) nicht einschlägig.
3. Entschuldigungsgründesind nicht ersichtlich.
4. Ergebnis:A hat sich hier nach § 240 StGB in unmittelbarer Täterschaft strafbar gemacht.
Vor dem Hintergrund des modernen Gewaltbegriffs ergeben sich im Übrigen komplizierte Abgrenzungsprobleme. Dies zeigt auch das folgende viel diskutierte
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Beispiel:A und seine Kommilitonen beschließen, Prof. P zu boykottieren. Sie nehmen daher Trillerpfeifen mit in die Vorlesung und beginnen zu pfeifen und mit den Füßen zu trampeln, sobald P anhebt zu reden. Da P keine Chance hat, sich gegen den Lärm durchzusetzen, muss er – wie von den Studenten geplant – die Vorlesung ausfallen lassen. Strafbarkeit des A?
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Lösung:In Betracht kommt eine Strafbarkeit wegen Nötigung gem. § 240 StGB, wenn das Pfeifen und Trampeln des A Gewalt i. S. d. § 240 I StGB darstellt. Gewalt bedeutet nach dem modernen Gewaltbegriff – wie gesehen – jede körperliche Tätigkeit, durch die körperlich wirkender Zwang ausgeübt wird, um geleisteten oder erwarteten Widerstand zu überwinden. Ausgehend hiervon ist eine körperliche Tätigkeit des A unproblematisch zu bejahen. Fraglich ist hingegen die körperliche Zwangswirkung auf Opferseite: Nach einer Entscheidung des BGH aus dem Jahre 1982[84] soll eine „Lärmkulisse“ dann physisch auf das Opfer einwirken, wenn der Betroffene der Einwirkung nicht oder nur mit erheblichem Kraftaufwand begegnen kann.[85] Vorliegend könnte man demzufolge das Merkmal der Gewaltanwendung bejahen, weil sich P akustisch nicht mehr gegen die Studenten durchsetzen konnte. Nach einer einschränkenden Ansicht liegt eine körperliche Zwangswirkung bei Vorlesungsstörungen nur dann vor, wenn Beeinträchtigungen der physischen Integrität des Dozenten zum Abbruch der Vorlesung führen.[86] Da P vorliegend die Vorlesung nach wie vor ohne körperliche Risiken hätte fortsetzen können, verneint diese Auffassung eine physisch wirkende Zwangslage.
Stellungnahme:Die besseren Gründe sprechen wohl für die Verneinung einer Gewaltanwendung i. S. d. § 240 I StGB. Die Auffassung des BGH ist mit dem modernen Gewaltbegriff des BVerfG unvereinbar. Die Tatsache allein, dass die Fortsetzung der Vorlesung sinnlos geworden ist, kann die Annahme von Gewalt nicht rechtfertigen, weil dadurch wieder eine unzulässige Vergeistigung des Gewaltbegriffs herbeigeführt würde. Entscheidend ist nämlich, dass die Fortsetzung des Vortrags (ebenso wie das Weiterfahren in den Blockadefällen) physisch noch ohne eigene körperliche Auswirkungen möglich ist. (Die Sinnlosigkeit einer solchen Fortsetzung ist für den Gewaltbegriff ein unbeachtliches Motiv.) Es fehlt daher bereits am Merkmal der Gewalt. A hat sich nicht gem. § 240 StGB strafbar gemacht.
Hinweis: Eine Strafbarkeit kann sich jedoch wegen Hausfriedensbruchs nach § 123 StGB ergeben, etwa wenn der Prof. als Hausrechtsinhaber die störenden Studenten des Saales verweist. Im Übrigen besteht für derartige Fälle wohl auch kein echtes Strafbedürfnis, weil das Lehrangebot in erster Linie dem Interesse der Studenten dient, sodass ein Abbruch der Vorlesung in Wahrheit zu ihrem Schaden gereicht.
C. Freiheitsberaubung nach § 239 StGB
I. Geschütztes Rechtsgut und Verhältnis zu anderen Delikten
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§ 239 StGB schützt die (potenzielle) persönliche Fortbewegungsfreiheit.[87]
Beispiel:A brachte seine damals fünfzehnjährige Tochter im Einvernehmen mit seiner allein sorgeberechtigten geschiedenen Ehefrau unter dem Vorwand, die Weihnachtsferien bei der Großmutter in Syrien zu verbringen und auch eine Namensänderung durchzuführen, am 29.12.2006 nach Syrien. Anschließend verweigerte A die Zustimmung zur Rückreise der Tochter.[88]
Lösung:Laut BGH erfasst der Schutzzweck des § 239 StGB zwar auch Einschränkungen der persönlichen Bewegungsfreiheit, durch die das Opfer gehindert wird, ein größeres Areal wie etwa das Gelände eines Krankenhauses oder einer geschlossenen Anstalt zu verlassen. Das Gebiet, aus dem sich das Opfer aufgrund der Tathandlung nicht entfernen kann, darf aber nicht beliebig weiträumig sein; ansonsten würde der Tatbestand in einer dem Schutzzweck der Norm widerstreitenden Weise überdehnt. Danach ist eine vollständige Aufhebung der Fortbewegungsfreiheit jedenfalls dann nicht mehr anzunehmen, wenn sich der verbleibende räumliche Entfaltungsbereich der betroffenen Person auf ein mehrere tausend – im Falle Syriens zur Tatzeit rund 185 000 – Quadratkilometer umfassendes Staatsgebiet erstreckt.
Die Freiheitsberaubung ist ein Spezialfall der Nötigung und geht daher grundsätzlich § 240 StGB vor, sofern der Täter nicht eine über die Duldung der Einsperrung hinausgehende Verhaltensweise des Opfers erzwingen möchte.[89]
Beispiel 1:A sperrt B ein.
Hier ist nur § 239 StGB erfüllt, da die Duldung der Freiheitsberaubung bereits vom Unrechtsgehalt des § 239 StGB erfasst ist.
Beispiel 2:A sperrte B ein und wollte hierdurch erzwingen, dass B eine belastende Aussage vor Gericht nicht wiederholt. Zu diesem Zwecke bedrohte er B im Falle der Wiederholung der Aussage auch mit dem Tode und schlug ihn, da ihn die Erklärungen des Opfers nicht zufrieden stellten.[90]
Hier ist sowohl § 239 StGB als auch § 240 StGB bzw. bei Erfolglosigkeit §§ 240, 22, 23 StGB tatbestandlich, rechtswidrig und schuldhaft erfüllt. Beide stehen zueinander in Idealkonkurrenz. Der gleichzeitig verwirklichte § 241 II StGB tritt hinter der (versuchten) Nötigung zurück. § 223 StGB steht zu §§ 239, 240, (22, 23) StGB in Tateinheit.
Umgekehrt wird § 239 StGB durch die schwereren Freiheitsdelikte der §§ 239a und 239b StGB verdrängt.
II. Die Tathandlungen
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Hierbei handelt es sich um den Hauptfall der Freiheitsberaubung, der dadurch begangen wird, dass die Ausgangswege verschlossen werden. Der Tatbestand ist verwirklicht, wenn das Opfer den Aufenthaltsraum entweder überhaupt nicht mehr oder nur auf unzumutbare Weise (etwa durch einen gefährlichen Sprung aus dem Fenster) verlassen kann.
Einigkeit besteht allerdings darüber, dass ganz kurzfristige Entziehungen der Freiheit für eine Tatbestandsverwirklichung nicht genügen.[91] Das RG hat hierzu entschieden, dass die Freiheitsberaubung mindestens für die Dauer eines Vaterunsers stattfinden muss.[92]
Umstritten ist im Übrigen auch, ob Bewusstlose oder Schlafende ihrer Freiheit beraubt werden können, auch wenn sie aktuell nicht fähig oder willens waren, diese in Anspruch zu nehmen. Das Problem veranschaulicht folgendes
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Beispiel:Dieb D steigt nachts bei den Eheleuten E ein, um bei ihnen zu stehlen. Zur Vermeidung eines unliebsamen Zusammentreffens mit den Eheleuten schließt er diese in ihrem Schlafzimmer ein, um ungestört „arbeiten“ zu können. Nachdem D allen Schmuck zusammengerafft hat, kehrt er zum Schlafzimmer der Eheleute zurück und sperrt die Schlafzimmertür wieder auf. Die Eheleute schliefen während der gesamten Zeit durch und bemerkten folglich ihre Einsperrung nicht. Strafbarkeit des D? (Schläfer-Fall)
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Lösung:Fraglich ist hier, ob über den Privatwohnungseinbruchsdiebstahl nach §§ 242, 244 IV StGB (§ 123 StGB wird konsumiert und § 243 I S. 1 Nr. 1 StGB nach h. M. im Wege der Spezialität verdrängt) hinausgehend sogar ein Raub nach § 249 StGB in Frage kommt. Allerdings wird man, um eine Vergeistigung des Gewaltbegriffs zu vermeiden, zumindest in diesem Fall (die Opfer schlafen) eine Gewaltanwendung verneinen müssen, weil es anderenfalls an der physischen, d. h. vom Opfer körperlich empfundenen Kraftentfaltung fehlt. Bei § 239 StGB ist fraglich, ob schon der Schutz der potenziellen Fortbewegungsfreiheit darunter fällt oder ob nur die reale persönliche Fortbewegungsfreiheit von § 239 StGB geschützt wird. Für den Schutz der potenziellen Fortbewegungsfreiheit spricht zum einen die Änderung des § 239 I StGB durch das 6. StrRG, da hierdurch der Begriff des Gebrauchs der persönlichen Freiheit gestrichen wurde und diese Neufassung nicht nur den Verzicht auf sprachlich entbehrliche Wendungen bezweckte.[93] Ferner spricht der mutmaßliche Wille des Schlafenden für die Einbeziehung des Fortbewegungspotenzials, da auch ein Schlafender nicht eingesperrt zu werden wünscht. Schließlich ist es wenig sinnvoll, Vollendung oder Versuch davon abhängig zu machen, ob der Eingesperrte erwacht oder nicht. Nach richtiger Auffassung ist daher der Tatbestand der Freiheitsberaubung erfüllt. Da D diesbezüglich auch vorsätzlich handelte und Rechtfertigungs- sowie Schuldausschließungsgründe nicht ersichtlich sind, ist eine Strafbarkeit gem. § 239 I Alt. 1 StGB zu bejahen.
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