»Da war aber jemand sehr kräftig«, flüsterte er, »das war mit Sicherheit kein Bär. Was ist hier vor sich gegangen? Zuerst diese blitzsaubere Schule und dieses Museum oder was auch immer … dann das hier.«
Er konnte nicht wissen, dass er gerade vor der Fundstelle der Myon-Pläne stand, die sich inzwischen in der Neuen Welt befanden.
Hätte er durch den dunklen Gang weitergehen können, der einmal als Fluchtweg gedacht gewesen war, wäre er unweigerlich zu dem großen Tor gelangt, durch das Nikita und Effel die Höhlen von Tench'alin betreten hatten. Doch ein massiver Felsbrocken, der dorthin bewegt worden war, versperrte nun den Zugang.
Als er später sein Zelt abbaute, stand für ihn endgültig fest, dass er sich nach Haldergrond aufmachen würde, um dort die sagenumwobene Äbtissin um Rat zu fragen. Für die Aufklärung des Verbrechens an seinem Sohn würde er auch über diesen Schatten springen.
Zum vorläufigen Abschied stieg Jared noch einmal zum Grab empor. Jesper folgte ihm mit hängenden Ohren. Am Grab kniete er nieder. »Ich finde deinen Mörder, Junge, das verspreche ich dir, und ich werde auch das Geheimnis dieses Tales lüften. Ich werde denjenigen finden, der dir das angetan hat.«
Er hatte die Worte leise gesprochen. Tränen rollten ihm die Wangen hinunter und verfingen sich in seinem Bart. Sein Weinen war diesmal ohne den lauten Schmerz, den er sich noch vor ein paar Tagen aus der Seele geschrien hatte. Jesper schaute ihn aus traurigen Augen an, doch die Banshee, die ihn aufmerksam beobachtete, sah er nicht.
Dann nahm er seinen Rucksack auf, rief seinen Hund bei Fuß und verließ das Tal auf dem gleichen Weg, auf dem er es betreten hatte.
»Es würde mich sehr interessieren, ob er etwas von Adegunde erfährt«, sagte Elliot zu Muchtna, nachdem Jared das Tal verlassen hatte. Die beiden Krulls hatten den Farmer während seines Aufenthaltes in Angkar Wat nicht einen Moment aus den Augen gelassen.
»Nun, ich denke mal, dass er so einiges erfährt«, antwortete sie, »aber kaum etwas davon wird er ihr glauben … hihi … ich wäre wahnsinnig gerne bei diesem Treffen dabei. Da prallen Welten aufeinander. Mir tut er aber auch ein wenig leid. Erst das Unglück mit seinem Sohn und jetzt gerät er hier vollkommen unschuldig in etwas hinein … ich bin nur froh, dass wir den Kopf seines Sohnes schon beerdigt hatten. Dieser Anblick wäre selbst für einen Mann wie Jared zu viel gewesen. Ich verstehe auch nicht, warum er dem Freund seines Sohnes das erzählt hat ... musste das sein?«
»Sicher nicht, aber der wollte es ja beim Abschied noch unbedingt wissen. Was die Äbtissin betrifft ... nun, die wird ihren Spaß haben.«
»Da gebe ich dir recht. Ich wäre wirklich gerne dabei … aber leider werden wir hier gebraucht … ich habe da so eine Ahnung, mein Lieber.«
»Wenn du das sagst«, seufzte Elliot, »die Menschen werden wohl nie Ruhe geben.«
***
Kaum war Scotty aus den Agillen zurückgekehrt – er hatte die Strecke noch nie so schnell bewältigt –, war er von seinem Vater, dem Tuchhändler Harie Valeren, ins Gebet genommen worden. Da er das Amen nicht abwarten wollte, entschied er sich, gleich mit der Sprache herauszurücken, und berichtete von seiner abenteuerlichen Suche nach Vincent. Er ließ nichts aus. Nicht das verborgene Tal, nicht, dass er fast von Jared umgebracht worden wäre, und auch nicht die entsetzliche Art und Weise, wie sein bester Freund ums Leben gekommen war.
»Was? Vincent ist tot? Er wurde ... ermordet?«, hatte sein Vater sichtlich erschüttert gefragt. »Und Jared hat ihn gefunden? Mein Gott, das ist ja furchtbar! Wie hat er es verkraftet? Weiß es Elisabeth schon?«
Sein Gesicht war kreidebleich geworden und er hatte sich auf den nächsten Stuhl fallen lassen.
»Nein, noch weiß sie es nicht. Ich bin erst einmal nach Hause gekommen, um euch zu beruhigen und … na ja, um Mutter zu fragen, ob sie mich begleiten möchte.«
»Begleiten? Wohin willst du denn jetzt schon wieder? Davon wird sie nicht gerade begeistert sein.«
»Nach Raitjenland. Jared hat mir einen Brief an Elisabeth mitgegeben und ich möchte nicht mit ihr alleine sein, wenn sie ihn liest. Mein Bedarf an ... ach lassen wir das.«
»Kann er ihr das nicht persönlich sagen? Muss er einen Brief schreiben? Also … so kenne ich ihn gar nicht.«
»Nein, er kann es ihr nicht sagen, weil er gar nicht mitgekommen ist. Normalerweise hätte er das gewiss selbst getan ... aber was wir in den letzten Tagen erlebt haben, war alles andere als normal, Vater. Da gibt es jede Menge Ungereimtheiten, einmal abgesehen von der Tatsache, dass bisher noch kein Mensch etwas von diesem Tal je erzählt hat. Findest du das nicht auch merkwürdig, dass es dort oben in den Bergen einen Ort gibt, den noch niemand von uns entdeckt hat? Wo wir doch schon tausendmal dort gewesen sind? Es müssen früher sogar ziemlich viele Leute da gelebt haben. Sie hatten eine kleine Siedlung errichtet … sogar mit einer Burg!«
Er erwartete darauf keine Antwort.
»Das ist in der Tat unglaublich, Junge. Aber jetzt iss und trink erst mal was, du siehst ja aus ... geh in die Küche und lass dir was von Anna herrichten. Wann hast du eigentlich das letzte Mal etwas Vernünftiges zu dir genommen?«
»Vorgestern, in Reegas und von dort hatte ich mir Proviant mitgenommen. Ich bin nicht hungrig, Vater.« Dass er am Morgen nur ein sehr karges Frühstück gehabt hatte, verschwieg er.
Der Tuchhändler hatte den Ausführungen seines Sohnes nicht ganz folgen können. Er war nur froh, dass er wohlbehalten zurück war. Aber der war mit seinen Ausführungen noch nicht fertig und fuhr aufgeregt fort: »Und jetzt kommt noch etwas sehr Merkwürdiges – und das schlägt wirklich dem Fass den Boden aus. Dort oben gibt es ein Schiff! Kannst du dir das vorstellen? Ein voll ausgerüstetes Segelschiff, ich glaube es ist eine Brigg ... mitten in den Bergen! Ist das nicht absurd? Sie muss allerdings neueren Datums sein, viel jünger als die Ruinen.
Sie ist in einem sehr guten Zustand ... man könnte sofort mit ihr lossegeln ... also wenn sie in einem Hafen liegen würde. Aber das war sicher noch lange nicht alles, das Tal ist groß. Jared wollte noch dort bleiben, um genauere Untersuchungen anzustellen. Er meinte, dass jeder Mörder einen Hinweis hinterlassen würde, und den wolle er finden. Danach hat er vor, nach Haldergrond zu gehen, um die Äbtissin um Rat zu fragen.«
»Adegunde? Er will wirklich Adegunde um Rat fragen, die Äbtissin von Haldergrond? Bist du dir da sicher? Das hat er tatsächlich vor?«
Hatten die Gesichtszüge des Tuchhändlers bis eben noch Besorgnis gezeigt, so schaute er jetzt erstaunt. Die Sache mit dem Schiff, das es dort in den Bergen geben sollte – und wenn es nicht sein Sohn gewesen wäre, der ihm das erzählt hatte, hätte er es nicht geglaubt –, war schon mehr als seltsam, aber dass Jared sich jetzt auch noch nach Haldergrond begeben wollte, übertraf selbst das noch.
Der Inhaber der größten Tuchweberei des Landes kannte den Farmer sehr gut. Er war sein Jagdfreund und saß seit Langem an seiner Seite im Gemeinderat von Winsget. Dass dieser Mann jetzt im Begriff war, eine Frau um Rat zu fragen, die zwar zugegebenermaßen überall einen hervorragenden Ruf genoss, von dem bodenständigen Jared allerdings mehr als einmal belächelt worden war, war schwer zu glauben. Des Öfteren hatte der in vertrauter Runde gesagt, wenn sie nach einer anstrengenden Ratssitzung noch im Dorfkrug oder in der Alten Mühle beisammensaßen, dass er nichts von diesen Dingen halte. Damit hatte er all das gemeint, wofür Haldergrond berühmt war, außer der Musik natürlich. Da musste also jetzt entweder über Nacht eine enorme Wandlung in Jared vorgegangen sein oder die Verzweiflung hatte ihn zu diesem Schritt veranlasst. Harie glaubte an das Zweite.
Читать дальше