1 ...6 7 8 10 11 12 ...25 Jedenfalls war er mit ein paar schnellen Schritten auf den feixenden Quälgeist zugetreten gewesen, der mit in die Seite gestemmten Armen breitbeinig und siegessicher grinsend dagestanden hatte, und hatte ihm eine schallende Ohrfeige verpasst. Sein ganzes Gewicht hatte er in diesen Schlag gelegt. Der Ältere mochte zwar nicht damit gerechnet gehabt haben, doch zu Scottys Leidweisen war dessen Reaktionszeit nur sehr kurz gewesen und so hatte er sich mit einem Elefantengewicht auf seiner Brust auf dem Boden liegend wiedergefunden.
Und dieser Elefant hatte auch noch mit beiden Fäusten auf ihn eingeschlagen. Hätte Vincent damals nicht beherzt eingegriffen, indem er den anderen am Kragen gepackt und zurückgezogen hatte, wäre alles sicher viel schlimmer ausgegangen als ohnehin schon. Peinlich für Scotty aber war gewesen, dass er Tränen vergossen hatte, nachdem er sich hochgerappelt hatte – was natürlich alle Umstehenden mitbekommen hatten. Dass auch Mädchen darunter waren, hatte die Sache nur noch schlimmer gemacht, und zwar weitaus schlimmer als die Schmerzen, oder das blaue Auge. Die äußerlichen Blessuren waren nach zwei Wochen vergangen gewesen, seine Schmach aber erwies sich als zäh und langlebig.
Jetzt, in diesem breiten Sessel, der ihm den Gefallen des Verschluckens nicht tat, wurde ihm bewusst, dass er selbst noch gar keine Zeit gefunden hatte, den Tod seines Freundes zu betrauern. In dem geheimnisvollen Tal hatte er Jared getröstet, oder es zumindest versucht, und auf dem Rückweg hatte er über die Erlebnisse und Rätsel der letzten beiden Tage nachgegrübelt. Normalerweise hatte er beim Wandern die besten Eingebungen. Aber obwohl sein Gehirn gearbeitet hatte wie ein Welpe, der mit spitzen Zähnen einen Lederschuh bearbeitet, war in diesem Fall der Erfolg ausgeblieben. Er wollte sich gegen das Schluchzen wehren, das aus ihm herauswollte, wollte es in seiner Brust einschließen. Es gelang ihm nicht. Hier, im Wohnraum der Farm, der noch größer war als der im Hause Valeren, war seine Mutter diejenige, die Trost spendete, und daher konnte er es sich jetzt erlauben, seinen Tränen freien Lauf zu lassen.
Scheiß drauf, dachte er noch und erinnerte sich im selben Moment wehmütig daran, dass dies einer der Lieblingssprüche Vincents gewesen war, was ihm durch seine Tränen hindurch ein gequältes Lächeln hervorlockte. Gefolgt wurde diese Erinnerung von dem Gedanken, was wohl jetzt aus der Clique werden würde. Die Unternehmungen würden zwar ruhiger verlaufen, aber auch wesentlich langweiliger, jetzt wo der Tonangeber mit seinen verrückten Ideen nicht mehr dabei sein konnte – sofern sie überhaupt noch stattfinden würden.
Im gleichen Moment schämte er sich auch schon für diesen Gedanken, weil er ihm so überaus egoistisch vorkam.
Elisabeth schaute zu ihm herüber und er sah durch den Schleier seiner Tränen, dass sie lächelte. Er erkannte, dass ihr Lächeln ein dankbares Lächeln war. Es sagte ihm so etwas wie: Danke, dass du sein Freund warst. Jedenfalls hoffte er das. Er hoffte auch, dass dies so bliebe und nicht jeden Moment umschlagen würde in ein: Warum hast du nicht besser auf ihn aufgepasst, Scotty Valeren? Bist du nicht immer der Vernünftigere von euch beiden gewesen? Aber das passierte nicht, jedenfalls nicht an diesem Tag.
»Er war unser Ein und Alles«, hörte er gerade Vincents Mutter schluchzen, »du weißt das.«
Das war an seine Mutter gerichtet, die mit einem mitfühlenden Kopfnicken und sanfter Stimme antwortete: »Ja, ich weiß das, wir alle wissen das.«
Dann reichte sie ihrer Freundin ein neues Taschentuch.
Elisabeth weinte und schnäuzte gleichzeitig hinein. So ging das einige Minuten lang, in denen man nur leises Weinen und das unaufhaltsame Ticken der großen Standuhr hören konnte, welche Scotty noch nie so laut vorgekommen war und von der er sich wünschte, ihre Zeiger mögen sich an diesem Tage schneller drehen.
»Was soll ich bloß ohne ihn machen? Wie soll das alles hier weitergehen ... vor allem, wenn wir alt sind?«, fragte Elisabeth dann etwas gefasster.
Die Frage war an niemand Bestimmten gerichtet, wie Scotty erleichtert bemerkte. Er hätte sie jedenfalls nicht beantworten können und er war sich auch nicht sicher, ob seine Mutter, die sonst nicht so leicht um eine Antwort verlegen war, diesmal eine einigermaßen zufriedenstellende gehabt hätte. Er hätte sich auch eher die Zunge abgebissen, als der trauernden Mutter jetzt von den Zukunftsplänen ihres Sohnes zu erzählen, die dieser mehr als einmal im Kreise seiner Freunde geäußert hatte. Abgenommen hatte er diese Vincent sowieso nicht, da immer ein paar Krüge Bier oder Wein mit im Spiel gewesen waren.
Jetzt schaute sie ihn aus tränennassen Augen an und diesmal lag Besorgnis in ihrer Stimme: »Wie geht es Jared? Es muss doch schrecklich für ihn gewesen sein.«
»Es war schrecklich für ihn, Elisabeth ... und das ist es sicher immer noch«, erwiderte Scotty bestimmt und wischte sich seine Tränen mit dem Ende des Jackenärmels weg. Er konnte sich nicht vorstellen, dass der Farmer seiner Frau in dem Brief den genauen Zustand ihres Sohnes mitgeteilt hatte, und er bezweifelte stark, dass er das überhaupt jemals tun würde. So etwas schilderte man keiner Mutter. Er hatte sich schon selbst innerlich verflucht, dass er beim Abschied von Jared unbedingt hatte wissen wollen, was genau mit Vincent passiert war. Dieses Bild würde er wahrscheinlich sein Leben lang nicht mehr aus dem Kopf herausbekommen.
»Dein Mann verarbeitet das jetzt auf seine Weise«, fuhr er mit festerer Stimme fort und rutschte in seinem Sessel nach vorne. »Er wird seine ganze Kraft in die Aufklärung dieses schrecklichen Verbrechens stecken. Es wird ihm sicher gelingen, den Mörder zu finden, Elisabeth. Wenn nicht ihm, wem denn dann?«
Er hoffte inständig, dass das überzeugt geklungen hatte, denn in Wirklichkeit glaubte er selbst nicht so recht daran.
»Jared schreibt, dass er unseren Sohn in diesem Tal beerdigt hat und dass es dort wunderschön sei.«
»Das stimmt, Elisabeth, und von dort, wo er begraben liegt, hat man einen herrlichen Blick über das Tal.«
»Ich möchte so schnell wie möglich dorthin, Scotty. Verstehst du das?« Elisabeth blickte ihn aus großen fragenden Augen an.
Scotty verstand und er verstand auch, was das für ihn bedeuten würde.
»Wirst du mich hinführen?«, fragte sie auch prompt. »Ich meine, wenn Jared nicht bald zurückkommt und ich mit ihm gemeinsam das Grab unseres Sohnes besuchen kann?«
Das mache ich selbstverständlich, wollte er gerade versprechen, als ihm im selben Moment etwas bewusst wurde.
Den Zugang zu dem Tal würde er nicht mehr finden. Alle anderen Erlebnisse hatte er deutlich vor Augen, aber wenn er sich an den Einstieg erinnern wollte, war sein letztes Bild ein Mufflon vor einer Felswand, das ihn neugierig anstarrte.
***
»Du vermisst Nikita sehr, nicht wahr?« Der Schmied brauchte die Antwort nicht zu hören, er konnte sie sehen. »Das kann ich verstehen«, fügte er einfühlsam hinzu.
Er rieb seine mächtigen Hände an der ledernen, im Laufe der Jahre speckig gewordenen Schürze ab. Dann hängte er das Kleidungsstück, das er stets während der Arbeit trug, an einem Wandhaken auf. Jetzt kamen eine alte Cordhose mit ausgebeulten Knien und ein rot-weiß kariertes Baumwollhemd zum Vorschein, das über der breiten Brust ein wenig spannte. Er hatte zuvor seine schweren Arbeitsschuhe im Flur gelassen und trug jetzt bequeme Hausschuhe. Der Schmied machte einen zufriedenen Eindruck. Da er selbst gerade bis über beide Ohren verliebt war, konnte er die Stimmung seines Freundes sogar sehr gut nachvollziehen.
Effel schaute Soko schweigend und gedankenverloren dabei zu, wie dieser begann, das Abendbrot zuzubereiten. Er selbst trug eine blaue Stoffhose und einen leichten Pullover.
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