Er hielt es zunächst einmal für ratsam, in Deckung zu bleiben, auch weil er die beiden nicht stören wollte. Außerdem sagte ihm sein Bauchgefühl, auf das er sich meist verlassen konnte, dass hier gerade etwas Ungewöhnliches vor sich ging.
Er holte seine Angel ein und justierte sein Fernglas nach.
Seine Neugierde war nun vollends entfacht. Er sah, wie die beiden von ihren Pferden abstiegen und am Waldrand stehen blieben. Sie umarmten sich lange und küssten sich. Dann schulterte Nikita einen Rucksack und nahm einen großen braunen Umschlag aus einer Satteltasche. Ohne sich noch einmal umzudrehen, begann sie, den Pfad zum Strand hinabzulaufen.
Effel blieb mit den Pferden zurück.
Weint sie etwa? Jetzt wird es interessant, dachte Marenko.
Bin mal gespannt, was sie hier zu suchen hat. Nach einem Picknick sieht es jedenfalls nicht aus, eher nach einem Abschied.
Moment mal, sie hat diesen braunen Umschlag … sie wird doch nicht wirklich die Pläne bekommen haben … und jetzt geht es wieder in die Heimat? Will sie etwa nach Hause schwimmen?
Dann sah er, dass Nikita winkte, aber nicht zu Effel zurück, sondern zum Wasser hin. Noch vielleicht hundert Fuß trennten sie jetzt vom Strand.
»Was ist denn hier los?«, murmelte Marenko. Und als er sich umdrehte, um zu sehen, wem Nikita da zuwinkte, sah er zunächst nur etwas Längliches aus dem Wasser ragen.
Ein Seeungeheuer, war das Erste, was ihm durch den Kopf schoss, aber kurz darauf identifizierte er es als Periskop. In der Schule waren früher genügend Kriegsfilme gezeigt worden.
Deswegen war er auch nicht überrascht, dass der Turm folgte, der allerdings größer war als alles, was er bisher gesehen hatte.
Kurz darauf tauchte etwas auf, das den Schiffen aus den alten Filmen zumindest ähnelte. Vielleicht 500 Fuß entfernt lag ein riesiges U-Boot ganz ruhig in der sanften Dünung.
Marenko stockte der Atem.
»Das war es wohl für heute mit dem Fischen«, murmelte er, nachdem er sich von seinem ersten Schreck erholt hatte.
Fast im gleichen Moment bog von seiner linken Seite her ein Schlauchboot um den Felsen. Es musste von einem starken Außenbordmotor angetrieben werden, wie man an der Bugwelle erkennen konnte. Zu hören war der Motor aber nicht.
Ein Mann in Uniform steuerte es. Er ließ es geschickt auf den Sandstrand gleiten, stieg aus und salutierte vor Nikita. Die beiden begrüßten sich jetzt per Handschlag und sie bestieg flink das Boot.
»Da laus mich doch … sie holen sie tatsächlich ab«, murmelte Marenko.
Er schaute durch sein Glas zum Waldrand zurück. Dort sah er Effel noch einen Moment ganz ruhig dastehen, aber kurz darauf konnte er ihn mit hängenden Schultern, die Pferde am Zügel führend, langsam im Wald verschwinden sehen. Er wollte gerade das Glas absetzen, als er eines Schattens gewahr wurde, der sich gerade von Effel wegbewegte.
Hmmm, komisch, war da jetzt noch jemand oder nicht? Da war doch gerade die Silhouette einer Frau gewesen … aber vielleicht war es auch bloß das Schattenspiel eines Baumes, kann sich ja nicht in Luft aufgelöst haben, falls da jemand gewesen sein sollte. Na, jedenfalls hat Nikita bekommen, was sie wollte, und jetzt wird sie abgeholt … einfach so? Wie gemein. Dann hat der Rat der Welten ihr also die Erlaubnis erteilt … das hätte ich nie gedacht. Der Junge da oben tut mir leid, hat sich wohl richtig verknallt in sie. Aber woher kam der Mann in diesem kleinen Boot? Es kam von dort drüben, nicht direkt vom U-Boot. Was hat er dort gemacht? Zum Angeln war er sicher nicht dort. Er wird doch hoffentlich nicht noch jemanden abgesetzt haben? Ähnlich sehen würde es denen ja.
Wenn das der Fall sein sollte, wird es mit der Ruhe hier vorbei sein.
Er schirmte mit einer Hand seine Augen vor der Sonne ab und schaute sich um. Von seinem Platz aus wurde er Zeuge, wie Nikita über eine herabgelassene Leiter auf das U-Boot kletterte. Auf der Brücke wurde sie von zwei Männern empfangen, die ebenfalls vor ihr salutierten. Einer der beiden trug eine schneeweiße Uniform mit goldenen Schulterklappen.
Kurz darauf waren alle durch die geöffnete Luke im Inneren des Schiffes verschwunden. Inzwischen musste der erste Mann sein Boot irgendwie dort untergebracht haben, denn er war nicht mehr zu sehen.
Kurze Zeit später war das Meer glatt wie zuvor. Marenko hatte nicht das leiseste Geräusch eines Motors gehört. Wenn er das Gehör eines Emurks gehabt hätte, hätte er ein dumpfes, dunkles Wummern wahrgenommen. Er rieb sich die Augen.
Wenn ich es nicht selbst gesehen hätte, würde ich es nicht glauben … na, da gibt es was zu erzählen heute Abend.
Eilig packte er sein Angelzeug zusammen, nahm die Satteltasche, bestieg sein Pferd und schlug den Weg nach Verinot ein.
Fast die ganze Strecke war er im Galopp geritten und als er vor seinem Haus abstieg, waren sowohl er als auch sein Pferd nass geschwitzt. Um ein Haar hätte er ein Kind über den Haufen geritten, als er in die Straße eingebogen war, in der sein Haus lag. Seine Frau kam herausgelaufen.
»Wer ist denn hinter dir her?«, rief sie. »Du tust ja, als sei dir der Teufel auf den Fersen. Ich habe dich schon von Weitem gesehen. Weißt du, was passiert wäre, wenn du den kleinen Jens umgeritten hättest? Du selbst rufst doch immer zur Vorsicht auf.«
»Vielleicht ist es auch der Teufel, der hinter mir her ist, aber dann ist er bald hinter uns allen her. Wenn meine Vermutung stimmt, ist er vor ein paar Stunden an unserer Küste an Land gegangen«, keuchte Marenko, noch immer außer Atem. »Das mit Jens tut mir leid, aber er ist ja mit einem Schrecken davongekommen.
In Zukunft wird er sicherlich vorsichtiger sein.
Komm, lass uns hineingehen, dann erzähle ich dir alles, aber zunächst brauche ich eine Dusche … und etwas zu trinken.«
»Es steht noch alles auf dem Tisch, ich habe heute spät zu Mittag gegessen. Wenn ich gewusst hätte, dass du so bald heimkommst, hätte ich gewartet. Geh du nur schon nach oben, ich versorge Lando erst einmal. Das arme Tier ist ja vollkommen erschöpft. Wenn du dich später noch hinlegen möchtest, bevor du zu deiner Versammlung gehst, zieh ja deine Schuhe aus, sonst ruinierst du mir die neue Couch.«
In diesem Moment wurde ihr bewusst, dass ihr Mann, seitdem er in Suizei gewesen war, im Haus immer seine Schuhe auszog.
***
Jared Swensson hatte die Rauchsäule ebenfalls gesehen. Sie hatte ihn allerdings nicht beunruhigt, denn es kam hin und wieder vor, dass es in dem Berg rumorte, sicherlich drei- bis viermal im Jahr. Von heftigen Ausbrüchen vieler Vulkane, zu denen es vor einigen hundert Jahren nahezu zeitgleich auf der ganzen Welt gekommen war, konnte man in den Chroniken lesen. Die Asche von Flaalands einzigem Vulkan war bis weit über Raitjenland hinaus niedergegangen und die Farm lag immerhin gut vier Tagesmärsche entfernt. Die Fruchtbarkeit des Landes war gewiss auch diesem Ereignis zu verdanken.
Der Himmel soll für viele Wochen verdunkelt gewesen sein, bis ein kräftiger und lang anhaltender Sturm wieder für Klarheit gesorgt hatte. In anderen Regionen der Erde hatten die Menschen die Sonne mehr als ein Jahr lang nicht gesehen.
Danach war die Welt verändert.
Warum sollte der alte Knabe auch gerade jetzt ausbrechen ... obwohl es zu meiner Stimmung passen würde, hatte Jared gedacht.
Das letzte Mal, dass ›Großvater Gork sich ein Pfeifchen angesteckt hatte‹, wie es hier scherzhaft hieß, war vor zwei Jahren gewesen. Die kleine Aschewolke hatte der Wind schnell zerstreut. Mehr war aus dem Vulkan nicht herausgekommen.
Der Farmer hatte damals – es war ebenfalls im Herbst gewesen – mit seinen Jagdfreunden gar nicht weit von Angkar Wat sein Lager aufgeschlagen. Es war eines der seltenen Male gewesen, an denen Vincent, der sich sonst lieber mit seinen Freunden die Zeit vertrieb, mit von der Partie gewesen war. Jared hatte ihn regelrecht beknien müssen mitzukommen und es war letztlich seiner Frau Elisabeth zu verdanken gewesen, dass Vincent sich der Jagdgesellschaft angeschlossen hatte. Sie hatte ihren Sohn zur Seite genommen und ihn fast schon angefleht. »Nun tu deinem Vater doch den Gefallen, mir zuliebe. Du weißt, wie wichtig ihm seine Jagdausflüge sind. Es gibt kaum eine bessere Gelegenheit, bestehende Geschäftsverbindungen zu festigen und neue zu knüpfen. Zeige deinem Vater, dass dir die Farm nicht egal ist. Außerdem wird es dir guttun, mal wieder aus deinen vier Wänden herauszukommen.
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