Das junge Paar hatte sich vor zwei Jahren durch einen glücklichen Zufall kennengelernt. Nach dem Studium war Isabel ein halbes Jahr lang mit dem Rucksack durch den Süden gereist. Sie wollte, bevor sie ihre Stelle als Lehrerin antrat, Land und Leute kennenlernen. Eines Morgens hatte sie in aller Frühe eine berühmte Tempelanlage besichtigt. Vor dem Betreten musste man seine Schuhe neben dem Eingangstor abstellen. Ein paar Männerschuhe, die bereits dort standen, hatten ihr signalisiert, dass sie an diesem frühen Morgen nicht die erste Touristin war. So lernte sie Haruki kennen. Schon drei Monate später war sie zu ihm nach Suizei gezogen.
Isabel hatte sich sehr über den Besuch aus der Heimat gefreut und ihren Gast stolz durch das geräumige Haus geführt, das die Familie ihres Ehemannes in nur einem halben Jahr in altem japanischen Stil für das junge Paar errichtet hatte.
Das einzig Moderne war eine Solaranlage.
»Komm, Onkel, ich zeige dir jetzt noch den Garten, dort können wir uns vor dem Essen noch ein wenig die Beine vertreten. Das tut dir sicher gut nach der langen Fahrt.«
»Gerne, liebe Isabel, zeige mir nur alles. Deswegen bin ich ja schließlich gekommen.«
»Das ist ein Zengarten«, hatte Isabel erklärt, »ich weiß nicht, ob du schon mal einen gesehen hast. Bei uns zu Hause gibt es so etwas ja nicht.«
Marenko hatte verneinend den Kopf geschüttelt und war bereits staunend in der Betrachtung dieses seltsamen Gartens versunken gewesen.
»Solche Gärten sind bis ins letzte Detail geplant. Um sie vollends zu verstehen, ist es nötig, sie richtig lesen zu lernen, und das ist eine Wissenschaft für sich. Harukis Onkel Akira ist ein sehr berühmter Gartenbauer. Der Name bedeutet übrigens der Strahlende.«
»Akira, so hieß, glaube ich, der Adler von Jared Swensson, dem Farmer aus Winsget. Wahrscheinlich kennst du ihn.«
»Den Adler?«, hatte Isabel gelacht.
»Nein, Jared natürlich«, hatte Marenko das Lachen erwidert.
»Wer kennt Raitjenland nicht? Aber dass er mal einen Adler hatte, wusste ich gar nicht.«
»Da warst du auch noch nicht auf der Welt, Isabel.«
»Das Anlegen dieses Gartens – du wirst gleich sehen, wie groß er ist – hat dreimal so lange gedauert wie der Bau unseres Hauses. Für Liebhaber sind ihre Gärten viel wertvoller als ihr Haus, na ja, und mein Mann liebt seinen Garten sehr.«
»Ich hoffe, er liebt ihn nicht mehr als dich«, hatte Marenko gelacht und seiner Nichte zugezwinkert, um sich anschließend mit einem großen Taschentuch Schweißperlen von der Stirn zu wischen.
»Nein, Onkel, da kannst du ganz beruhigt sein, ich habe den besten Mann der Welt … aber komm weiter, es gibt viel zu sehen. Ich hoffe, es ist nicht zu anstrengend für dich?«
»Es geht schon, es geht schon, mach nur weiter, es ist alles sehr interessant bei euch.«
»Ein Zengarten ist so angelegt, dass Besucher ganz entspannt viele Entdeckungen machen können. Schau einmal hier.«
Isabel hatte mit einem Arm in eine Richtung gedeutet und ihre Erklärung fortgesetzt. Es hatte ihr sichtlich Vergnügen bereitet, ihrem Onkel ihr Wissen zu demonstrieren.
»Meistens führt ein Blick aus einer anderen Perspektive zu einem ganz neuen Eindruck. Das wird durch eine asymmetrische Anordnung erreicht. Wie du bald bemerken wirst, sind auch unebene Wege sehr beliebt. Das soll es für den Besucher noch interessanter machen, durch den Garten zu gehen. Gerade Wege wie dieser, auf dem wir stehen, werden nur angelegt, um den Blick in eine bestimmte Richtung zu lenken. Statt herumzuschlendern, kann man sich an einer Stelle niederlassen, den Garten betrachten und auf sich wirken lassen. Daher die kleinen Bänke hin und wieder. So wird die Fantasie auf eine wundervolle Weise angeregt. Onkel, schau, du kannst in die verschiedenen Elemente dieses Gartens viel hineininterpretieren.
Egal ob du sie einzeln oder als Kombination betrachtest.
Trotz der genauen Planung eines solchen Gartens gibt es aber keine strenge Vorgabe bei der Deutung. Komm, lass uns ein wenig ausruhen, hier ist einer meiner Lieblingsplätze.«
Sie hatten sich auf eine kleine Bank gesetzt, die fast gänzlich von Bambus umgeben war, der von einem leichten Wind sanft bewegt wurde. Marenko hatte die Einladung nur zu gerne angenommen. Er hatte einen Moment die Augen geschlossen und dem leisen Rascheln des Bambus gelauscht.
Nach einer kleinen Weile hatte Isabel ihn sanft in die Seite gestoßen.
»Sieh mal, in unserem Garten kommen besonders die vier Elemente Stein, Moos, Wasser und Baum vor. Die letzten beiden jedoch nur in symbolischer Form«, sie hatte auf einige Bonsais in der Nähe gezeigt.
»Steine symbolisieren beispielsweise Tiere, das Wasser steht für Seen oder Ozeane, die auch Göttern gewidmet sein können, die der alten Sage nach über das Meer zu uns kommen.
Komm mit, ich zeige dir jetzt das Wasser«, hatte sie sich mit einem Lächeln bei Marenko untergehakt. Und dann hatte sie auf ein rechteckiges, mit einem niedrigen Holzrahmen eingefasstes Kiesbett gezeigt und war stehen geblieben.
»Um Wasser darzustellen, wird Sand oder dieser spezielle Granitkies verwendet. Der verweht nicht so schnell. Die geharkten Linien symbolisieren Wellen. Die großen Steine, die dort überall in scheinbarer Unordnung liegen, können als liegende Hunde, Wildschweine oder als Kälber, die mit ihrer Mutter spielen, aufgefasst werden.«
Langsam waren sie während Isabels Erläuterungen weitergegangen.
Marenkos Blick war auf ein niedriges Rundhaus gefallen, das von mehreren zierlichen Laternen umgeben war.
»Weißt du, dass du der Erste aus der Familie bist, der mich hier besuchen kommt?«, hatte sie gefragt, als sie sich in dem Teehaus niedergelassen hatten. Vor ihnen stand eine Kanne duftender Jasmintee. Isabel hatte das Gebräu langsam in die zarten Porzellantassen eingeschenkt, woraufhin süßer Duft den Raum erfüllt hatte.
»Nein, das weiß ich nicht … sogar deine Eltern waren noch nie hier? Ihr hattet doch immer ein sehr enges Verhältnis, soweit ich mich erinnere. Bist du nicht ihre einzige Tochter?«
Marenko hatte vorsichtig von dem heißen Getränk gekostet.
»Ja, das stimmt alles, aber Mama geht es nicht so gut, seit sie sich vor zwei Jahren bei einem Reitunfall eine Wirbelverletzung zugezogen hat, und Papa reist nicht ohne sie. Sie braucht immer noch einen Stock.«
»Dann sollte sie mal zu dem Schmied in Seringat gehen … ich werde ihr den mal empfehlen, wenn ich wieder zurück bin.«
»Zu einem Schmied?« Isabel hatte die Stirn in Falten gezogen.
»Was soll sie denn bei einem Schmied?« Dann hatte sie lachen müssen. »Sie braucht doch keine neuen Hufe, Onkel Marenko.«
»Ich weiß, ich weiß, keine Angst. Er heißt Soko Kovarik und ich kann dir versichern, gerne auch schwören, dass er heilende Hände hat. Schon zwei meiner besten Pferde hat er wieder hinbekommen. Beide hatten sich die Hüfte ausgerenkt, was bei meinem Gewicht ja nun wirklich kein Wunder ist«, lachte er kurz auf. »Zwei kurze Griffe und sie waren wieder wie neu … unglaublich, sage ich dir. Aus der ganzen Gegend bringen sie ihre kranken Pferde, Rinder, Hunde … eben einfach alles, was Hufe, Pfoten oder Federn hat, zu ihm. Soko schaut sich immer auch den Besitzer sehr genau an und wenn er bei diesem ein Hinken oder auch nur einen Anflug davon entdeckt, was oft der Fall ist, heilt er den gleich mit. ›Wie der Herr, so's Gescherr‹, sagt er dann und lacht. Ein wirklich bemerkenswerter Bursche, dieser Schmied. Ein Versuch ist es allemal wert, liebe Isabel … ich werde es deiner Mutter sagen.
Wäre doch wirklich schade, wenn deine Eltern das hier nicht sehen könnten.«
»Na, wenn das so ist«, hatte die Nichte geantwortet, »dann bin ich gespannt, ob er ihr helfen kann.«
Marenko hatte sich verrenken müssen, als er wenig später zu Tisch gebeten wurde, denn er war es nicht gewohnt, so niedrig zu sitzen. Ächzend ließ er sich auf einem der breiten, kunstvoll bestickten Kissen nieder. Das Essen hatte ihm unerwartet gut geschmeckt, obwohl er zunächst einmal die Nase gerümpft hatte, als er erfahren hatte, dass es sich vornehmlich um kalten Reis und rohen Fisch handeln würde, der in Algenblätter eingewickelt war. Die Bemerkung, ob kein Geld mehr für Stühle übrig gewesen war, hatte er sich verkniffen, denn er hatte die Menschen auf Anhieb gemocht und wenn er ehrlich war, hätten Stühle auch nicht zum restlichen Stil des Hauses gepasst. Hoffentlich würde seine Frau nicht eines Tages auf die Idee mit Sitzkissen am Esstisch kommen. Besser er erzählte ihr von dieser Einrichtung hier nichts.
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