1 ...6 7 8 10 11 12 ...16 »Die Ma… was? Warum?«
Ein lautes Krachen klang durch die Stille, Holz auf Holz. Fliss’ Augen weiteten sich. Jetzt war sie hellwach und stolperte zittrig aus dem Bett.
Im selben Moment stürmte Granny an ihrem Zimmer vorbei.
»IST JA GUT!«, brüllte sie. »ICH KOMME JA SCHON!«
»Fliss, die Matroschka, sofort !«, zischte Betty. »Charlie, ins BETT!«
»Ich hab sie vorhin versteckt, damit Charlie keinen Blödsinn mehr damit macht«, murmelte Fliss und kramte die Holzpuppen aus der unteren Schublade der Kommode hervor. Dann erstarrte sie und presste sich die Hände auf die Brust. »B-Betty … ist das ein … ein …?«
»... Irrlicht? Ja.« Betty eilte auf ihre Schwester zu und warf dabei einen Stapel Wäsche um. Hektisch griff sie nach der Matroschka, zog die äußere Puppe auseinander und tat dann das Gleiche mit der zweiten und dritten. Sie waren leer, bis auf Hopsis Schnurrbarthaar in der dritten Puppe.
»Jetzt hör zu«, schärfte Betty dem Mädchen ein. »Ich werde dir helfen, dich vor den Wärtern zu verstecken, aber du darfst niemandem verraten, was jetzt gleich passieren wird. Niemandem! Verstanden?«
»Aber Betty«, sagte Charlie leise, »du hast doch gesagt, die Matroschka ist ein Geheimnis.«
»Das ist sie auch.« Betty warf Willow noch einen strengen Blick zu und versuchte, ihre Bedenken nicht zu zeigen. »Und das wird auch so bleiben .«
»Was, wenn nicht?«, wisperte Fliss, die Augen noch immer auf das Irrlicht gerichtet. »Wer ist dieses Mädchen, und warum gehst du ein so großes Risiko ein?«
»Weil sie die Gesuchte ist«, erklärte Betty atemlos. »Von der Insel der Qualen . Und wenn man sie hier findet, haben wir alle ein Riesenproblem.«
Dann wandte sie sich wieder an Willow und sagte: »Ich brauche etwas von dir. Ein Haar, ein Stück Kleidung … irgendetwas Persönliches.«
Sie musterte flüchtig Willows Kleid, doch es war so zerschlissen, dass es wahrscheinlich auseinanderfallen würde, wenn sie versuchte, einen Knopf oder einen losen Faden abzureißen. Bevor sie weiter überlegen konnte, steckte Willow einen Finger in ihre Nase und zog etwas heraus.
»Igitt!«, rief Charlie.
»Entschuldigung«, sagte Willow. »Geht das?«
»Das wird sich zeigen«, sagte Betty. Sie drehte Willow in Richtung Kommode. »Jetzt guck in den Spiegel.« Sie schraubte die obere Hälfte der dritten Puppe zu und steckte alle Puppen vorsichtig wieder ineinander. Dabei achtete sie darauf, dass der winzige aufgemalte Schlüssel auf den beiden Hälften jeder Puppe genau zusammenpasste.
Sofort schnappte Willow erschrocken nach Luft: Sie war verschwunden.
Betty streckte die Hand aus und griff nach ihrem Arm. »Man kann dich immer noch hören und fühlen.« Sie führte Willow in die Zimmerecke neben der Kommode. »Bleib hier stehen. Sei still und beweg dich nicht.«
Von unten war ein lautes, schleifendes Geräusch zu hören. Granny öffnete die Haustür.
Kurz darauf schwang knarrend ihre Zimmertür auf, denn ein Luftzug strich jetzt durch den Wildschütz wie ein ungebetener Gast. Mit ihm drangen die harschen Stimmen zweier Fremder die Treppe herauf.
»Die Wärter sind hier«, wisperte Betty voller Angst.
Kapitel 4 Was für ein Schlamassel!
Betty!«, rief Fliss mit erstickter Stimme. Sie deutete mit zittrigem Finger auf die Zimmerecke. »Das … Ding da!«
Das Irrlicht! Bei all der Hektik, Willow unsichtbar zu machen, hatte Betty fast die seltsame Lichtkugel vergessen, die neben der Kommode über dem Boden schwebte.
»Wir können es nicht verstecken«, begriff sie. Das wäre, als würde man versuchen, nach Luft zu greifen. Aber sie durften deshalb nicht erwischt werden! Bilder des Gefängnisses drängten sich in Bettys Gedanken. Der Gestank, die Ratten. Der baumelnde Strick am Galgen … Nein! Sie zwang sich, ihre Gedanken zu fokussieren und sah sich nach möglichen Verstecken um – der Kleiderschrank? Der Schmuckkasten? – , nur um sie alle gleich wieder zu verwerfen. Dann blieb ihr Blick an einer alten Öllampe auf dem Bücherbord hängen, und eine Idee blitzte auf. Eine waghalsige Idee, aber eine, die vielleicht funktionieren könnte …
»Willow«, flüsterte sie aufgeregt und zeigte auf die Lampe. »Kannst du den Irrwisch dazu bringen, da reinzugehen?«
»Ich … ich versuche es, aber –«
»Gut«, sagte Betty. »Dann mach das – schnell.« Sie streifte ihre Stiefel ab, schlüpfte ins Bett und bedeutete Fliss, dasselbe zu tun. Als sie die Decke hochzog, spürte sie Charlie neben sich vor Kälte zittern. Betty sah hinüber zu Fliss. Ihre ältere Schwester war ganz bleich im Gesicht und ließ den Irrwisch nicht aus den Augen, der das einzige Licht im schummrigen Zimmer war. Betty folgte ihrem Blick. Aus der Ecke nahm sie Willows leise, bebende Atemzüge wahr. Erleichtert beobachtete sie, wie das Irrlicht auf die Öllampe zuschwebte, sich in dem kreisförmigen Glas niederließ und sanft leuchtete, ganz wie eine Flamme.
In der Stille des Zimmers konnte Betty nur ihre eigenen schnellen Atemzüge und die ihrer Schwestern hören. Doch dann ertönte von unten die Stimme ihrer Großmutter, dröhnend und kämpferisch.
»Ich habe es Ihnen doch schon gesagt – hier ist niemand! Nur ich und meine Enkeltöchter, die oben schlafen. Wenn Sie jetzt bitte –«
Eine eiserne Stimme schnitt ihr das Wort ab. »Wie viele Enkeltöchter?«
»Drei«, antwortete Granny frostig. »Warum? Wir haben nichts zu verbergen, das sagte ich Ihnen doch!«
»Dann haben Sie sicher auch nichts dagegen, wenn wir uns umsehen.«
»Dürfte ich wohl um Ihren Namen bitten?«, fragte Granny. Ihre Stimme klang jetzt gefährlich tief. »Damit ich weiß, über wen ich mich beschweren muss?«
»Wärter Wild«, kam die spöttische Antwort. »Und das ist Wärter Gans. Und es gibt nichts, worüber Sie sich beschweren müssten, meine Liebe. Lassen Sie uns einfach unsere Arbeit tun, dann gehen wir wieder.«
»Seit wann besteht Ihre Arbeit darin, zu nachtschlafender Zeit in die Häuser unschuldiger Leute einzufallen?«, wollte Granny wissen.
»Unsere Aufgabe ist es, Ordnung zu bewahren«, sagte Wild frostig.
»Und für die Sicherheit der Leute zu sorgen«, warf eine andere Stimme ein.
Das muss Gans sein , dachte Betty. Er klang weniger selbstbewusst als Wild.
»Also gut«, brummte Granny. »Aber beeilen Sie sich. Ich bin zu alt für solchen Mumpitz!«
Betty lag starr vor Angst unter der Bettdecke, aber sie verspürte auch ein wenig Stolz auf ihre unerschrockene Großmutter. Alle in Krähenstein hatten panische Angst vor den Wärtern – alle, außer Granny, wie es schien. Andererseits hatten die meisten Leute auch vor Granny Angst, wenn sie schlechte Laune hatte. Wenn irgendjemand diese zwei Männer vertreiben konnte, dann Granny.
»Wir durchkämmen das Haus. Jede Ecke, jeder Schrank und jeder Kamin muss durchsucht werden«, befahl Wild. »Aber zuerst will ich alle hier unten sehen.«
»Was?«, fragte Granny. »Warum?«
»Ich stelle hier die Fragen«, erwiderte Wild barsch. »Alle Bewohner hierher, und zwar ein bisschen plötzlich. Hol sie runter!«
Betty warf Fliss einen ängstlichen Blick zu. Die Schwestern wussten sehr gut, wozu die Wärter fähig waren. Ihr Vater hatte sich einmal mit ihnen angelegt und war im Gefängnis von Krähenstein gelandet. Und jetzt waren die Wärter wieder hier und fielen in ihr Zuhause ein.
Am Fuße der Treppe waren Geräusche zu hören, und dann rief Granny nach oben: »Fliss? Betty? Cha…«
»Wir kommen«, rief Fliss mit zittriger Stimme zurück. Sie schlüpfte aus dem Bett und lief mit nackten Füßen über die Holzdielen. Charlie folgte ihr und griff mit ihrer kleinen Hand nach der ihrer Schwester. Betty zog sich schnell ihren Morgenmantel über und warf einen Blick in die dunkle Ecke, wo Willow versteckt war, und dann auf das Bücherbord, wo die Lampe stand. Zu ihrem Entsetzen hatte das Irrlicht begonnen, aus dem Glashals der Öllampe herauszudriften.
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