Willow starrte das leuchtende Etwas nachdenklich an. »Was habt ihr denn von Irrlichtern gehört?«, fragte sie schließlich.
»Viele Dinge«, hörte Betty sich sagen, während ihr vage bewusst wurde, dass sie schon wieder gebannt auf den Irrwisch starrte. »Dass sie böse Geister sind, oder Kobolde oder die Seelen von Menschen, die in der Marsch ertrunken sind. Einige Leute sagen aber auch, es sind nichts als Sumpfgase.« Sie starrte auf den Irrwisch, der jetzt sogar noch näher – noch mutiger ?, dachte sie – auf Charlies ausgestreckte Hand zuschwebte. »Aber wenn ich mir dieses Etwas hier ansehe, ist mir klar, dass es mehr ist als Sumpfgas. Es ist zu … lebendig. Zu neugierig.«
»Lebendig?«, brachte Willow heiser hervor. »Nicht direkt, aber früher einmal.«
»Wer … wer war es denn?«, fragte Charlie.
Willow sagte nichts. Sie streckte ihre Hände noch einmal über das glimmende Feuer und bewegte ihre Finger hin und her. Dabei rutschte ihr Ärmel ein Stück nach oben und gab den Blick auf ein kleines dunkles Mal frei, das auf ihr Handgelenk tätowiert war.
»Was ist das?«, fragte Charlie und beugte sich vor.
Aber Betty wusste es schon, und der Anblick erfüllte sie mit ebenso viel Angst und Grauen wie das Irrlicht.
»Eine Krähenfeder«, sagte Willow leise.
»Dann bist du also wirklich eine von denen, die geflohen sind«, sagte Betty mit klopfendem Herzen. »Aber … aber nicht aus dem Gefängnis. Von der Insel der Qualen ! Du gehörst zu den Verbannten!«
Willow nickte und sah sie mit weiten Augen an. »Bitte ruft nicht die Wärter«, flehte sie. »Ich gehe auch bald. Ich … ich brauchte nur einen Platz, um mich für einen Augenblick zu verstecken und nachzudenken. Sobald ich weg bin, könnt ihr behaupten, dass ich nie hier war, dass ihr mich nie gesehen habt.«
»Aber das ergibt doch keinen Sinn«, sagte Betty langsam. »Warum haben sie aufgehört, die Glocke zu läuten, wenn du noch nicht gefunden wurdest?« Da kamen ihr die Worte der Wärter wieder ins Gedächtnis. Zwei Ausreißer … eine Person halb ertrunken an Land gespült … wird die Nacht wohl nicht überleben.
»Wer … wer war denn bei dir?«, fragte Betty behutsam.
»Meine Mutter«, krächzte Willow. »Ich bin mir nicht einmal sicher, ob die Wärter wussten, dass wir zu zweit waren, dass ich bei ihr war … aber dann ging etwas schief …« Willows Miene verdüsterte sich. »Ich … wir wurden getrennt, und danach ging alles so schnell, und dann … dann konnte ich sie nicht mehr finden. Und dann hörte die Glocke nach ewig langer Zeit auf zu läuten. Deshalb weiß ich jetzt, dass sie … dass die Wärter …«
»… sie gefangen haben«, beendete Charlie atemlos den Satz.
Betty wandte beunruhigt den Blick ab. Die an Land gespülte Person, von der die Wärter gesprochen hatten, musste Willows Mutter sein – doch davon schien Willow nichts zu ahnen. Betty konnte sich nicht überwinden auszusprechen, was sie vermutete.
Willow schluckte hörbar und nickte. Ihre Augen glänzten im dämmerigen Licht. Eine Hand wanderte zu ihrer Rocktasche und tätschelte sie, als wollte sie sich vergewissern, dass sie etwas darin nicht verloren hatte. Der Irrwisch schwebte um sie herum und erinnerte Betty an Fliss, wie sie jedes Mal um Charlie herumscharwenzelte, wenn die sich die Knie aufgeschlagen hatte.
Charlie streckte den Arm aus und nahm sanft Willows Hand, um die tätowierte Feder auf ihrer Haut zu betrachten. »Hat es wehgetan?«
Willows Unterlippe zitterte. »Ja.« Dann starrte sie gedankenverloren ins Feuer und beruhigte sich ein wenig. »Alle auf der Insel bekommen eine Markierung. Ich habe noch Glück gehabt – meine ist ja nur klein …«
Charlie starrte sie mit offenem Mund an. »Du meinst, andere Leute kriegen noch größere?«
»Ja. Ich hab nur eine Feder bekommen, weil es nicht mein eigenes Verbrechen war«, erklärte Willow.
»Wessen Verbrechen war es dann?«, fragte Betty, die ihre Neugier nicht unterdrücken konnte. Man erzählte sich viel über das Leben auf der Insel der Qualen , aber Genaues wusste niemand darüber. Allgemein bekannt war nur, dass dort gefährliche Menschen lebten. Ehemalige Sträflinge, die nach ihrer Haft keine Bleibe fanden, und andere, die aus Krähenstein verbannt worden waren. Es war ein Auffangbecken für Übeltäter.
Bevor Willow antworten konnte, wurden sie von einem empörten Quieken aus Charlies Richtung unterbrochen. Der Irrwisch schwirrte um ihre Handfläche herum, sichtlich fasziniert von der Ratte, die man nicht sehen konnte.
»Ganz ruhig, Hopsi«, sagte Charlie und ließ ihre Hand in der Tasche verschwinden. Betty beobachtete, wie sich der Stoff bewegte, als das unsichtbare Tier sich in Charlies warmer Manteltasche vergrub.
»Sie spüren Leben«, sagte Willow leise. »Sie werden davon angezogen. Deshalb kommen sie auch näher, wenn man ihnen draußen in der Marsch begegnet. Meistens sind sie harmlos, aber manche …«
Ein lautes Pochen an der Haustür ließ sie zusammenzucken.
»Aufmachen!«, bellte eine Stimme. »Im Namen von Krähenstein!«
»Wärter!«, zischte Betty entsetzt. Sie starrten einander an und wagten nicht, sich zu rühren. Von oben war das Quietschen von Sprungfedern zu hören, als sich jemand im Bett umdrehte. Dann war es wieder still.
»Wenn wir ganz leise sind, denken sie vielleicht, wir schlafen, und gehen wieder«, flüsterte Charlie, aber sie hatte den Satz kaum beendet, als ein weiteres lautes Hämmern die Tür erzittern ließ. Der Riegel hob sich und klapperte.
»Die geben nicht auf«, sagte Betty mit matter Stimme.
»Sie dürfen mich hier nicht finden«, sagte Willow zitternd. »Bitte! Ich gehe hinten raus, ich …«
»Nein.« Betty überlegte schnell und ergriff die Initiative. »Sie haben bestimmt die zerbrochene Pforte im Hinterhof gesehen und sich zusammengereimt, dass du hier bist. Wir müssen damit rechnen, dass einer von ihnen hinter dem Haus steht, um dich dort abzufangen.«
»Bitte verratet mich nicht«, flehte Willow.
Betty zögerte. Jeder, der dabei erwischt wurde, entflohene Gefangene zu verstecken, wurde selbst ins Gefängnis geworfen oder sogar verbannt. Jemandem von der Insel der Qualen zu helfen, würde sicher ähnliche Strafen nach sich ziehen. Aber wenn sie Willow an die Wärter auslieferten … Auf jeden Ausbruchsversuch stand die Todesstrafe.
Das Poltern an der Tür nahm ihr die Entscheidung ab.
»AUFMACHEN!«, brüllte eine Stimme.
»Schnell, hier entlang!« Betty packte Charlies Hand und lotste Willow in Richtung Treppe. Ihr Herz pochte so heftig wie das Klopfen an der Tür.
»Betty?«, fragte Charlie atemlos und stolperte fast die Treppe hinauf.
»Schsch«, flüsterte Betty und schob ihre Schwester und Willow vor sich her. Das Irrlicht schwebte neben ihnen und schoss an ihren Füßen vorbei, um in der Nähe des fremden Mädchens zu bleiben. Betty bugsierte sie alle in ihr Zimmer und schloss die Tür. Auf der anderen Seite der Wand knarrte noch einmal das Bett, und dann stampften schwere Schritte über den Fußboden.
»Granny ist wach«, wisperte Charlie.
»Los, ins Bett jetzt!«, befahl Betty. Ihr Blick schoss hinüber zum Regal. Dort lagen ein Stapel Bücher, ein paar Flaschen mit Fliss’ selbst gemachtem Rosenduftwasser und Charlies neuester Erpresserbrief an die Zahnfee. Doch was Betty suchte, war nirgends zu sehen.
»Betty?«, flüsterte eine Stimme aus der Dunkelheit. »Was ist los? Wer ist da an der Tür?«
Betty wirbelte herum. Fliss saß aufrecht im Bett; das dunkle Haar stand ihr noch immer in kurzen Büscheln vom Kopf ab. Sie rieb sich die Augen und musterte Willow. »Wer ist das?«
»Keine Zeit für Erklärungen – die Wärter stehen vor der Tür«, wisperte Betty, während ihr Blick weiter das Zimmer absuchte. »Fliss – die Matroschka! Wo ist sie?«
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