Wild schüttelte den Kopf. »Wenn wir uns geirrt haben, bringen wir sie zurück. Aber irgendwie hab ich das Gefühl, das wird nicht der Fall sein.«
»Warten Sie!«, rief Fliss. »Die schwarze Feder! Wenn sie eine der Verbannten wäre, müsste sie doch eine Tätowierung haben.« Sie schoss auf Charlie zu und schob ihren Ärmel hoch. »Und das hat sie nicht!«
Wilds flackernder Blick ruhte kurz auf Charlies Arm, aber sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. »Das beweist nur, dass sie noch nicht tätowiert wurde«, sagte er tonlos. »Ein Grund mehr, das so schnell wie möglich nachzuholen.«
Betty wechselte einen entsetzten Blick mit Fliss. Ihre kleine Schwester, gebrandmarkt mit einer schwarzen Feder? Der Gedanke war einfach zu schrecklich.
Sie warf einen hilflosen Blick zu Gans, aber sie wusste schon, dass er zu schwach war, Wild umzustimmen. Keine Panik , redete sie sich selbst zu. Das ist alles nur eine dumme Verwechslung, und das werden die Wärter auch bald merken.
»Und was ist damit?«, fragte Gans ängstlich und deutete mit einem Nicken auf das Irrlicht. »Was sollen wir damit … machen ?«
»Das, was wir sonst auch machen würden«, brummte Wild. »Nicht hinhören und nicht einlullen lassen. Wer weiß, welche dunkle Magie es herbeigerufen hat … welcher Fluch darin steckt … Übrigens, alle Bewohner dieses Hauses haben ab sofort Ausgangssperre«, fuhr er fort. »Niemand verlässt das Haus, niemand kommt herein, verstanden? Ihr wartet jetzt auf die Wärter, die morgen früh Dienst haben und euch noch mal ausführlich befragen werden.«
Er legte eine Hand auf Charlies Schulter, die Charlie sofort abschüttelte.
»Ich geh nirgends hin, Mister. Sie können mich nicht festnehmen – ich werde nächste Woche erst sieben!«
»Wir verhaften Kinder auch nicht«, sagte Wild mit zusammengepressten Zähnen. »Wir nehmen sie in Obhut.«
Charlie hörte auf, sich zu winden, und sah ihn fragend an: »Was für ein Hut?«
Wild warf ihr einen genervten Blick zu, aber Betty bezweifelte, dass er sich von Charlies frecher Art abschrecken lassen würde. Er platzierte seine Hand noch einmal auf Charlies Schulter, diesmal jedoch mit festem Griff. »Komm.«
»Jetzt hören Sie mal zu«, sagte Granny und stellte sich resolut an Charlies Seite. »Sie geht nirgendwohin, nicht ohne jemanden von uns.«
»Das ist nicht erlaubt«, sagte Wild. »Darf ich Sie daran erinnern, dass Sie alle unter Hausarrest stehen …«
»Zum Teufel mit dem Hausarrest!«, knurrte Granny. »Sie sind doch dafür da, uns zu beschützen! Eigentlich sollte ich Sie befragen, warum hier Irrlichter umherschwirren und in die Häuser unschuldiger Leute eindringen!«
Charlie sah hinab auf Wilds Hand und warf Betty einen Seitenblick zu.
Dann bewegte sie lautlos die Lippen: Soll ich ihn beißen?
»Nein!«, platzte Betty heraus, sodass alle verwirrt in ihre Richtung sahen. Sie hüstelte und warf Charlie einen warnenden Blick zu.
»Also, ich komme jedenfalls mit«, sagte Granny und griff entschlossen nach ihrer Pfeife. »Ihre Fragen können Sie mir ja auch auf dem Weg stellen!«
»Sie kommen ganz sicher nicht mit«, sagte Wild kühl.
Granny nahm Charlies Hand. »Das werden wir ja sehen.«
Und plötzlich lief alles aus dem Ruder.
Wild schlug Grannys Hand grob zur Seite. Ihr Unterkiefer klappte herunter, und sie stieß ein furchtbares Schimpfwort aus, das Fliss vor Scham erröten und Charlies Augen entgeistert hervortreten ließ.
»Wie können Sie es wagen , die Hand gegen mich zu erheben?«
Entsetzt sah Betty zu, wie Granny den Holzlöffel schwenkte, den sie in der Hand hielt, und Wild damit mir nichts, dir nichts auf die Nase schlug.
»Das reicht!«, brüllte er Granny ins Gesicht. »Sie sind verhaftet!«
»Nein!«, schrie Fliss. »Das können Sie nicht machen! Granny, schnell, entschuldige dich …«
»Das werde ich nicht tun«, sagte Granny mit einem seltsamen Funkeln in den Augen.
Sie hat sich absichtlich verhaften lassen , begriff Betty und spürte eine Welle der Zuneigung für ihre Großmutter. Damit sie bei Charlie bleiben kann!
Wild musterte sie mit eigenartiger Genugtuung und nickte Gans kurz zu. »Leg ihr Handschellen an. Wir setzen sie beim Halunkenzinken ab.«
»Sie meinen … sie geht nicht mit Charlie auf die Insel?« Betty sank der Mut, als Gans ein Paar silberner Handschellen hervorholte.
Mit einem Klick schloss er sie um Grannys Handgelenke. Ihre faltigen Hände ballten sich zu Fäusten, und ein weiterer Schwall von Schimpfwörtern strömte aus ihrem Mund.
»Der diensthabende Wärter kann sich morgen früh um sie kümmern«, sagte Wild zu Fliss.
Dann schob er Charlie in Richtung Küchentür. Gans führte Granny ab und folgte den beiden mit schuldbewusstem Blick.
Betty hätte am liebsten die Hände nach Granny und Charlie ausgestreckt und sie festgehalten, aber sie wagte es nicht.
»Wie können die so etwas machen?«, tobte Granny. »Das ist doch Entführung, genau, das ist es!«
»Keine Sorge, Granny«, sagte Charlie und schob ihre kleine Hand in Grannys alte, während Wild sie die Treppe hinunterführte. »Wenigstens bekomme ich mal die Insel der Verbannten zu sehen, und außerdem bin ich sehr gut darin, entführt zu werden!«
»Was redest du denn?«, murmelte Granny. »Du bist doch noch nie entführt worden, Charlie. Das hier ist nicht irgendein albernes Spiel!«
Betty und Fliss wechselten einen Blick. Sie erinnerten sich beide an etwas, von dem Granny und ihr Vater nichts ahnten. Nur die drei Schwestern wussten von dem Abenteuer, das sie zusammen erlebt hatten und bei dem Charlie tatsächlich entführt worden war.
Die Eingangstür des Wildschütz fiel mit einem Knall ins Schloss, der das ganze Haus erschütterte. Einen Augenblick später war ein Poltern zu hören. Grannys Hufeisen, das nun schon so lange über der Tür hing, war zu Boden gefallen. Betty lauschte auf das verklingende Scheppern des Eisens und konnte die unheimliche Vorahnung, die von ihren Gedanken Besitz ergriffen hatte, nicht mehr länger abschütteln. All diese kleinen unheilvollen Zeichen … die Krähen, das falsch herum hängende Hufeisen. Hatte das alles vielleicht doch etwas zu bedeuten gehabt?
Auch wenn sie glaubte, dass die Wärter ihren Irrtum bemerken und Charlie zurückbringen würden, beschlich sie das Gefühl, dass etwas an dieser ganzen Situation furchtbar falsch war.
»Arme Charlie«, sagte sie leise. »Das wäre alles nicht passiert, wenn ich Willow nicht ins Haus gelassen hätte.«
»Es wird ihnen schon nichts geschehen«, sagte Fliss. Sie strich Betty tröstend über den Arm, doch ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie genauso viel Angst hatte wie ihre Schwester. »Charlie lässt sich nicht so schnell unterkriegen, und die Wärter werden sie zurückbringen müssen, wenn sie ihren Fehler bemerken.«
»Wir müssen Willow aus dem Haus schaffen«, sagte Betty, die kaum zugehört hatte. Sie wischte sich mit dem Ärmel über die triefende Nase und bemühte sich, nicht mehr zu schniefen. »Wir müssen sie loswerden. Jetzt.«
Betty marschierte ins Zimmer der Mädchen und ließ Fliss in der Küche herumklappern. Ihr Atem ging stoßweise, als sie den dunklen Raum betrat. Aus einer schummerigen Ecke tauchte das Irrlicht auf und leuchtete matt, als es um ihre Knöchel schwebte. In den schrecklichen Momenten der Verhaftung und Entführung hatte sie die unheimliche Lichterscheinung fast vergessen. War es den Wärtern ebenso ergangen? Oder hatten sie einfach beschlossen, sich nicht mehr darum zu kümmern, nachdem sie Charlie gefangen genommen hatten? Der Anblick des Irrlichts aus dieser Nähe stärkte Bettys Entschlossenheit. Das Irrlicht gehörte nicht hierher, genauso wenig wie das seltsame Mädchen, das es begleitete.
Читать дальше