Der Wärter kniff die Augen zusammen und sah sie durchdringend an. »Nein, das haben wir nicht.«
»Ich meine, Ihre Kollegen«, sagte Fliss. »Andere Wärter.« Sie wandte sich an Betty. »Gans und …?«
»Wild«, ergänzte Betty. Mit wachsendem Unbehagen starrte sie auf die immer tiefer werdende Falte zwischen den Augenbrauen des Mannes.
Der zweite Wärter wechselte einen Blick mit dem ersten.
»Es gibt keine Wärter mit den Namen Gans und Wild.«
Kapitel 6 Ein verzauberter Stein
Sie waren doch gerade hier, vor ein paar Minuten«, sagte Fliss mit schriller Stimme. »Haben uns Fragen gestellt, das Haus durchsucht …«
Doch der erste Wärter entgegnete kurz und knapp: »Auf dieser Seite von Krähenstein sind im Moment nur wir zwei unterwegs. Wir haben uns vor einer Stunde von den anderen beiden aus dem Suchtrupp getrennt. Wer auch immer bei euch gewesen ist, es waren keine Wärter.«
Keine Wärter? Diese Information drang in Bettys Gedanken wie Marschnebel und umhüllte sie wie ein grauer Schleier. Sie fühlte sich beklommen und verloren.
»A-aber sie waren doch in Uniform!«, fuhr Fliss fort. Ihre Unterlippe zitterte. »Sie haben unsere kleine Schwester mitgenommen! Und unsere Großmutter. Das ist alles ein schrecklicher Irrtum!« Sie warf einen verzweifelten Blick zu Betty. » Sag es ihnen!«
»Das … das ist es«, krächzte Betty. Sie sah das Flehen in den Augen ihrer Schwester und wusste, dass Fliss sie beschwören wollte, Willow zu verraten, aber so einfach war das nicht. Willow an die Wärter auszuliefern, würde Charlie nicht zurückbringen. Es würde den Widdershins nur eine weitere Straftat einhandeln.
»Sie haben gedacht, unsere Schwester wäre jemand anders – die Ausreißerin –, und … und als wir versucht haben, sie davon abzuhalten, Charlie mitzunehmen, haben sie Granny verhaftet und gesagt, sie würden sie zum Halunkenzinken bringen …« Betty brach ab, als der erste Schreck einem eiskalten Grauen wich, das sich in ihrem Körper ausbreitete.
Wer waren diese Männer, die Charlie und Granny mitgenommen hatten? Was wollten sie von Willow? Fest stand nur, dass diese Leute den Wärtern zuvorgekommen waren. Wachsende Panik hatte von Betty Besitz ergriffen. Alles war auf einmal anders. Wenn sie nicht einmal mehr wussten, wer Charlie in der Gewalt hatte, wussten sie auch nicht, wo man sie hinbringen würde. Oder warum …
»Warum sollten sie die beiden verwechselt haben?«, murmelte der Wärter vor sich hin. »Wir werden uns wohl besser selbst mal umsehen.«
»Einen Moment noch«, unterbrach ihn Fliss und versperrte den Männern den Weg. »Wenn das vorhin keine echten Wärter waren, wie kann ich dann wissen, ob Sie die sind, für die Sie sich ausgeben?«
Der Wärter schürzte die Lippen. Es waren schmale Lippen, an die Betty sich erinnerte, denn sie hatte diesen Wärter schon einmal gesehen. Er war klein und hager, mit einem schlaff herunterhängenden Schnurrbart im Gesicht. Ein Mann, der einer ausgemergelten Ratte ähnelte und der auch die passende Persönlichkeit dazu hatte. Er zeigte auf sein Dienstabzeichen: ein goldener Krähenfuß, der selbst im schummrigen Licht glänzte. Betty erinnerte sich an seinen Namen, bevor er ihn nannte.
»Tobias Pike. Und das hier ist Eli Minnich.«
Minnich deutete ebenfalls auf sein Abzeichen.
»Das beweist gar nichts«, sagte Fliss. »Die anderen haben auch Abzeichen getragen.«
»Er ist ein Wärter«, warf Betty ein. »Ich … ich erinnere mich, ihn schon mal gesehen zu haben. Im Gefängnis.« Das stimmte zwar nicht ganz, aber es war einfacher, als Fliss zu erklären, dass sie Pike zum ersten Mal begegnet war, als die drei Schwestern sich aufgemacht hatten, um ihren Fluch zu brechen.
Die Mädchen traten zur Seite, um Pike und Minnich vorbeizulassen. Fliss schloss die Tür hinter ihnen.
»Und ihr habt ihnen die Geburtsurkunde eurer Schwester gezeigt?«, fragte Minnich stirnrunzelnd, als sie durch die Kneipe gingen. Er hatte eine sanftere Stimme als Pike und ein freundlicheres Gesicht. Er holte ein Notizbuch hervor, schlug es auf und begann mit einem Bleistift etwas hineinzukritzeln.
»Ja.« Fliss rannte schnell nach oben und kam mit dem Stapel Papiere aus Grannys alter Keksdose zurück. »Das ist Charlies Geburtsurkunde. Sie haben gesagt, das beweise nicht, wer sie sei, und haben sie mitgenommen.«
»Zurück zur Insel der Qualen ?«, fragte Pike.
Betty nickte matt. »Das haben sie gesagt, aber wenn sie gar keine echten Wärter waren, dann …« Warum sollten sie Charlie dann auf die Insel der Qualen bringen ?, fragte sie sich und sah, wie sich ihre eigene Angst in den Augen ihrer Schwester widerspiegelte. Und was würden sie mit Charlie machen, wenn sie ihren Irrtum bemerkten?
Pike wandte sich eindringlich an Minnich: »Wir müssen zum Hafen, und zwar schnell. In diesem Nebel können sie noch nicht weit gekommen sein. Wir zünden die Leuchtfeuer an und senden Suchtrupps aus.«
»Und was ist mit den Wärtern, in deren Kleider die Betrüger geschlüpft sind?«, wollte Fliss wissen. »Können Sie die nicht um Unterstützung bitten?«
»Dazu müssen wir sie erst mal finden«, sagte Minnich. »Aber wenn diese Betrüger Wärteruniformen tragen, dann …« Er brach ab und schluckte vernehmlich. »Dann sieht es nicht gut aus.«
»Was ich nicht verstehe, ist, warum sie Granny mitgenommen haben«, sagte Fliss. Ihr ovales Gesicht war jetzt leichenblass, und selbst ihre Lippen, die normalerweise tiefrot waren, sahen matt und farblos aus. »Wenn sie nur nach diesem Mädchen suchten, warum haben sie dann nicht einfach nur Charlie mitgenommen?«
»Sie wollten Granny eigentlich gar nicht. Sie wollten uns nur Angst einjagen«, begriff Betty. »Es war ein Ablenkungsmanöver, das uns völlig überrumpelt hat.« Wilds völlig übertriebene Reaktion ergab jetzt auf einmal Sinn. Es war klar, dass Granny eigentlich nicht hätte verhaftet werden sollen, aber es hatte Betty und Fliss auf jeden Fall eingeschüchtert.
Pike musterte Betty mit einem langen Blick. »Gibt es noch irgendetwas anderes, das ihr uns erzählen solltet? Irgendetwas, das wir wissen müssen, um eurer Schwester zu helfen?«
Betty schüttelte den Kopf. Sie dachte an Willow, die sich oben im Mädchenzimmer versteckt hielt und lauschte.
»Nein.« Bettys Stimme klang hohl. Solch ein kleines Wort für solch eine große Lüge .
»Wenn das so ist«, sagte Pike, »fangen wir gleich an zu suchen.«
»Eine Beschreibung? Oder eine Fotografie?«, warf Minnich ein.
Betty reichte ihm ein kleines Bild aus dem Regal über der Kasse. Charlie grinste darauf vorwitzig in die Kamera. »Hier. Das Bild wurde Anfang letzten Jahres aufgenommen – seitdem sind ihr die beiden Schneidezähne ausgefallen.«
»Bitte«, sagte Fliss mit bebender Stimme. »Bitte, finden Sie unsere Schwester. Bringen Sie Charlie zurück.«
Minnich nickte ernst und steckte das Bild in seine Tasche.
»Bist du schon mündig?«, fragte Pike Fliss.
»I-ich werde nächsten Monat siebzehn«, stammelte Fliss.
»Gut. Alt genug also, um die hier zu beaufsichtigen«, sagte Pike barsch und deutete mit einem Nicken auf Betty.
Wenn die Umstände nicht so ernst gewesen wären, hätte Betty sich diesen Kommentar nicht gefallen lassen. Sie war dreizehn – sie brauchte niemanden, der sie beaufsichtigte! Aber jetzt war nicht der Moment, die Augen zu verdrehen oder eine sarkastische Bemerkung zu machen. Jetzt war der Moment, den Mund zu halten und die Augen offen zu halten.
Die Wärter verabschiedeten sich, und die Mädchen verriegelten zum zweiten Mal an diesem Abend die Eingangstür des Wildschütz . Als sie den Riegel vorgeschoben hatte, lehnte Fliss ihre Stirn gegen das dunkle Holz und stieß einen erstickten Seufzer aus. Betty, die schon auf halbem Weg zur Treppe war, drehte sich voller Ungeduld und Sorge nach ihrer Schwester um. Wenn eine von ihnen jetzt zu weinen anfinge, würde die andere womöglich auch in Tränen ausbrechen, und das konnten sie sich im Augenblick nicht erlauben.
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