Auf einer anderen Seite schrieb ich über meinen Vater, über das Versteckspiel, das wir immer mit ihm in der Wohnung machten. Wie seine Augen strahlten, wenn er uns suchte. Es war uns schon bewusst, dass er unser Versteck schnell finden konnte, er tat nur so. Dieses Spiel konnte er im realen Leben nicht spielen. Er wollte nichts übersehen, und manchmal warf er seine Worte gleichgültig um sich. Sie fielen in unsere Herzen und Ohren wie Feuerbälle.
Ich fing an, mehr in meinem blauen Heft als in meiner Trauer zu leben. Ein Schreibfluss durchströmte mein Leben und ließ mich vorwärts gehen. In mir keimte die Hoffnung, dass das Reden bald zurückkomme.
Nach etwa drei Monaten musste ich die Therapie beim Psychiater abbrechen, da diese nicht mehr genehmigt wurde und ich weitere Therapiestunden hätte selbst bezahlen müssen. Wie hätte ich das als Asylbewerberin gekonnt? Ich hatte ja meine Zunge wieder, meinten sie.
Im Herbst 2008 verließ ich die Praxis des Psychiaters und war eigentlich froh, die Behandlung nicht mehr weiterführen zu müssen. Ich fühlte mich reif genug, um zu begreifen, wo ich stand. Es würde nicht mehr lange gehen, bis ich aus diesem Zustand herauskam. Viele Wunder hatten mich in die Schweiz zurückgebracht. Jetzt musste ich die Verantwortung für mich selbst übernehmen, sagte ich mir.
Beyan unterstützte mich, indem er mir viel aus seinem Leben erzählte: Wie er im Irak gelebt hatte und wie ihm die Flucht bis in die Schweiz gelungen war.
Einmal machten wir eine Radtour von Frauenfeld nach Kreuzlingen und dann einen langen Spaziergang am See. In einem Restaurant in Kreuzlingen tranken wir Kaffee.
«Wollen wir hoch? Die tolle Aussicht vom Seeburgturm über den Bodensee ist unverzichtbar», sagte Beyan.
Katrin blieb unten, weil sie Höhenangst hatte. Beyan und ich stiegen die Treppen hoch. Eine wunderschöne Seelandschaft.
«Schau, viele Menschen haben auf der Holzbrüstung Namen und Botschaften in verschiedenen Sprachen hinterlassen. Möchtest du auch etwas schreiben?», sagte er und gab mir einen Bleistift. Er trat zwei Schritte zurück, und es war, als ob Nosche auch dabei wäre. Ich nahm den Stift und schrieb auf Arabisch: bayt, Haus.
Viel Zeit war vergangen, seit ich das letzte Mal in dieses Heft geschaut hatte. Ich wusste, dass es mich in Lebensabschnitte zurückführen würde, die ich nicht gerne mochte. Trotzdem ging ich in der Wohnung, ohne meine Schuhe auszuziehen, direkt ins Schlafzimmer und zu meinem Kleiderschrank, in dem sich eine kleine Truhe befand. Ich zog das Heft hervor, setzte mich auf den Rand des Bettes und begann darin zu blättern. Mehrmals hatte ich Bienen gezeichnet, sie bringen Glück. Meine Mutter meinte, jede Biene würde eine Botschaft tragen, die zum Glück führe. «Bienen lügen nicht, betrügen nicht, und sie schaden niemandem. Wenn du eine Biene siehst, lache und denke an das Wunder, das sie tragen.»
Ich brachte das Heft an seinen Ort zurück und begann, Daniel eine SMS zu schreiben. «Wie geht’s dir? Habt ihr überhaupt ein Wochenende? Was hast du gearbeitet? Ich habe deine Postadresse gar nicht, ich wollte dir deinen E-Reader schicken. Ich war in Frauenfeld bei Beyan und Katrin, und meine Arbeit hier tue ich wie üblich. Es ist schwierig, ohne dich hier zu sein. Ich habe dich lieb, Aida.»
Der Duft der Croissants im Café der sudanesischen Frau kündigte einen neuen Tag an. Die Frau war glücklich, da ihre Tochter heute ihr erstes Konzert als Cellistin in Basel gab. Stolz überreichte sie mir den Flyer. Er erinnerte mich an den irakischen Cellisten, der auf den Straßen gegen Terror protestierte. An Schauplätzen kurz nach Anschlägen, Autobomben, Sprengstoffattentaten tauchte dieser Künstler auf und begann zu spielen. Trotz der Blutflecken und Trümmer fühlten sich diese Schauplätze durch seine Musik wieder lebendig an.
Bei der Arbeit begann die Woche mit vielen Aufgaben. Meine Chefin gab mir eine lange To-do-Liste. Sie ist freundlich, spricht aber wie ein Roboter, und das ist es, was mich an ihr und manchen Schweizern stört, ihre neutrale Sprache. Sie kann viel reden, ohne ein einziges Gefühl zu zeigen. Ich kann meine Gefühle dem gegenüber, was ich sage, nicht verstecken.
Nach der Arbeit ging ich am Rheinufer spazieren. Wie ein Maultier trottete ich mit gesenktem Kopf meinen Lieblingsweg entlang, den ich fast auswendig kannte. Auf einmal überkam mich das Gefühl der Traurigkeit. Sie berührt meine Seele immer wieder anders, auch wenn ihre Hand dieselbe ist.
Der Herbst vermischte sich mit der Kälte des Oktobers. Mein Spaziergang endete in einem großen Kaffeehaus. Ich suchte einen Platz in einer Ecke. Die großen Hallen verwirren mich, die Mehrheit hat wie ich die falsche Hautfarbe.
Auf meinem Tisch lag ein Wettbewerbsformular für einen Sprachaufenthalt, ich begann es auszufüllen. Bei der Rubrik «Nationalität» machte ich zuerst einen Strich, aber dann schrieb ich «Schweizerin» hin. Ein seltsames Gefühl ergriff mich. Ich fühlte mich wie ein Zauberer, der auf einer Bühne steht und stolz präsentiert, wie er eine Frau trotz unzähliger Messerstiche unversehrt hält. Ich wusste nicht, ob ich der Zauberer oder die Frau war, auf jeden Fall war ich eine Lügnerin. Ich zerriss das Formular, holte mir meinen Kaffee und begann über den Weg, der mich in die Schweiz gebracht hatte, nachzudenken. Wer wäre ich ohne die Flucht geworden und was hat die Flucht aus mir gemacht? Ich war wie ein Affe auf einem dünnen Ast – man denkt, er würde fallen, aber er nutzt den Schwung des federnden Astes, um zum großen Stamm zu springen.
In diesem Café hatte Daniel häufig an seiner Masterarbeit geschrieben. Hier passe es am besten, über das Thema Heimat zu schreiben, «ich fühle mich wie im Ausland», sagte er zu seiner Mutter und mir. Sie war zu Besuch gekommen für die Museumsnacht und hatte uns zum Essen eingeladen. Von einem Nebentisch war Arabisch zu hören. Daniel schaute mich an und fragte: «Was denkst du, können Menschen ohne Heimatverlust verstehen, wie schwierig es ist, sich eine neue Heimat zu erschaffen?»
«Ich kann es nicht beurteilen», antwortete ich. Seine Mutter schaute mich an.
«Was heißt: Du weißt es nicht? Warum tust du so, als ob es dich nichts anginge?», bohrte Daniel weiter. Ich schwieg einen Moment, seine Mutter merkte, dass sich die Stimmung anspannte.
«Muss das denn jetzt sein?», fragte sie.
Daniel schaute wütend. «Das war eine ganz normale Frage», sagte er, «und es ist unpassend, dass Aida sie als eine Zumutung empfindet.»
«Ich bin nicht empfindlich, aber in deiner Sprache ist manchmal etwas Unangenehmes. Es vermittelt mir das Gefühl, dass ich ewig fremd bleiben werde.» Ich stand auf, und ging. Weder er noch seine Mutter verloren ein Wort, sie starrten mich bloß mit den größten Augen der Welt an. Ich konnte meine Tränen nicht zurückhalten.
In der Wohnung verschwand ich im Schlafzimmer und weinte. Mein Körper begann zu zittern. Ich vergrub meinen Kopf zwischen meinen Beinen. Als Kind tröstete mich mein Vater, wenn er mich betrübt sah. Einmal nahm er mich auf seinen Schoß und sagte mir ins Ohr: «Wenn du groß bist, wirst du darüber lachen.» Wie sehr vermisste ich ihn. Ich hörte seine Stimme in meinem Ohr, spürte seine Handfläche auf meinen Schultern.
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