In der Zwischenkriegszeit und in einer zweiten Welle in den Fünfzigerjahren arbeiteten viele junge Frauen, meist aus bäuerlichen Familien, in italienischen Großstädten als Dienst- bzw. Kindermädchen. Obwohl diese Arbeitsmigration quantitativ durchaus bedeutend war, fehlte dazu bislang jede historische Aufarbeitung. Wer sind die Frauen, und wie erfuhren sie von den Dienststellen, wie erlebten sie die Städte und die „fremde“ Kultur, wie die neue Arbeit? Wie gestaltete sich ihre Freizeit, wie erlebten sie die „große Politik“ in den Jahren des Faschismus, der Option und des Krieges? Und wie war es, in eine für viele sehr klein gewordene Welt zurückzukehren?
Auf diese Fragen antworteten über siebzig ehemalige Dienstmädchen. Entstanden ist so ein farbiges und spannendes sowie reich bebildertes Buch, das einen bislang nicht beachteten Bereich der Sozial- und Frauengeschichte aufarbeitet.
Ursula Lüfter/Martha Verdorfer/Adelina Wallnöfer
Wie die Schwalben fliegen sie aus
Südtirolerinnen als Dienstmädchen in italienischen Städten 1920–1960
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Abteilung Deutsche Kultur in der Südtiroler Landesregierung. Die Forschungsarbeit wurde von derselben, der Stiftung Südtiroler Sparkasse und der Gemeinde Bruneck gefördert .
© Edition Raetia, Bozen
Zweite Auflage 2011
Grafisches Konzept: Dall’O & Freunde | Druckvorstufe: Typoplus
ISBN 978-88-7283-407-7
eISBN 978-88-7283-755-9
www.raetia.com
Einleitung
„Aufgewachsen sind wir mit Brennsuppe und Polenta“
Geografische Herkunft
Kinder des Krieges
Soziale Herkunft
Lebensverhältnisse in der Zwischenkriegszeit – Krisen und Aufbau
„An Kindersegen waren wir reich“
Erziehung zur Arbeit
Im Dienst bei einem Bauern
„Viel gelernt haben wir nicht“ – Schulerfahrungen
Katholische Mädchenerziehung
„Ihr werdet ja doch heiraten“ – Weibliche Lebensperspektiven
Erwerbsarbeit in Südtirol
Der Lockruf der Stadt
Zwischen Wunsch und Zufall – Wege in die Stadt
„Cercasi ragazza tedesca“
Vor der Reise – Erwartungen und Ängste
Die Reise in die Stadt
Erste Kontakte mit den Arbeitgebern
Die Bahnhofsmission
Im Haushalt der „Herrschaften“
Bürgerliches Selbstverständnis und symbolische Repräsentation
Familienideologie und Familienpolitik im Faschismus
Im rechtlichen Vakuum
Der gute Lohn – „Daheim haben sie aufs Geld gewartet“
Ein schlechtes Bett und karge Kost
„Grüße aus der Ferne“ – Briefkontakt mit daheim
Krank im Haushalt der „Herrschaft“
Beziehungen am Arbeitsplatz
Zwischen Nähe und Distanz – Das Markieren von sozialen Grenzen
Unter dem wachsamen Auge der Hausfrau
Die zweite Frau im Haus – Mütter und Schwiegermütter
Der „Padrone“ – Väterliche Autorität oder latente Bedrohung
Frauenlose Haushalte
„Man hat sich ja nichts zu sagen getraut“
Flucht als letzter Ausweg
Von gewohnter und fremder Arbeit
Alleinmädchen oder Dienstbotenriege
„Dort habe ich richtig kochen gelernt“
Putzen und Waschen – Der Mythos von der leichten Hausarbeit
Vom richtigen Auftreten des Dienstmädchens
Die grenzenlose Verfügbarkeit
Das Kindermädchen – Eine privilegierte Stellung
Leben in der Stadt
Im Labyrinth der Straßen
Freizeit nach Dienstherrenmaß
Kontakte außerhalb des Hauses
Schonzeiten im Arbeitsalltag
„Am Meer waren wir auch“ – Tagesausflüge und Reisen
Vergnügen und Wissbegierde – Unterwegs in der Stadt
Die Bar – Treffpunkt in den 50er Jahren
Über innere und äußere Veränderungen
Von der Gretelfrisur zum Bubikopf
Männerbekanntschaften
Die „ehrenhaften“ Männer
„Ich hab mich nicht mehr heimgetraut“ –Uneheliche Mutterschaft
Heirat mit einem Italiener
Unter kirchlicher Obhut
Garantie für eine gute Stelle?
Kirchliche Organisationen für Dienstmädchen
Die Via Panizza in Mailand
Die Anima in Rom
Kontinuitäten und Veränderungen nach 1945
Die Begegnung mit dem Fremden
Faszination und Heimweh
Zwischen Klischee und Erfahrung
Reden und sich verstehen
Weihnachten – Ein vertrautes, fremdes Fest
„Politik war für mich tabu“ – Arbeits- und Alltagsleben in unruhigen Zeiten
Die politische Steuerung des Arbeitsmarktes
Traditionen der Nähe
Über Italiener und Faschisten
Opfer in Südtirol, Zuschauerinnen „in Italien“ – Die zwei Gesichter des Faschismus
Nationale Inseln
Im Fahrwasser der Politik
Zwischen Stereotypie und Normalität –Im Dienst bei jüdischen Familien
Der Einbruch des Politischen – Die Option
„Warum kommt ihr nicht nach Capri?“
Zensurierte Briefe
„Hier geht es mir gut und hier bleibe ich“
Den Krieg erleben
Die Zeit danach
Rückkehr in die „kleine“ Welt
Zeitpunkt und Anlass der Rückkehr
Selbst- und Fremdwahrnehmung der Heimgekehrten
Heirat als ambivalente Erfahrung
Die Zeit im Rückblick
Anmerkungen
Bibliografie
Zeitungen und Zeitschriften
Quellen
Internetadressen
Editorische Notiz
Dank
Nachwort zur zweiten Auflage
Bildverzeichnis
Über Dienstmädchen bzw. weibliche Hausangestellte gibt es inzwischen sowohl im deutsch- wie auch im italienischsprachigen Raum eine breite Forschung und zahlreiche Publikationen. Der zeitliche Schwerpunkt liegt dabei in der Zeit vor der Jahrhundertwende, als die Anzahl der weiblichen Dienstboten in bürgerlichen Haushalten einen Höhepunkt erreichte. Das Augenmerk richtet sich vor allem auf die Hausarbeit als besondere Form der weiblichen Erwerbsarbeit, die den Frauen einerseits den Schritt in die ökonomische Selbstständigkeit eröffnete, gleichzeitig aber durch die meist enge Bindung an die Arbeitgeber die persönliche Freiheit auf ein Minimum reduzierte. Die Arbeit als Dienstmädchen fügte sich als Übergangszeit nahtlos in die Biografie der Frauen vom Land ein: vom Bauernmädchen zum Dienstmädchen und dann zur Hausfrau und Mutter – so zumindest wollte es die gesellschaftliche Norm.
Das Phänomen der Dienstmädchen in städtischen Haushalten war zudem mit Migration verbunden. Die Migrationsforschung hat in den letzten Jahren zwar sehr an Aufmerksamkeit gewonnen, wird aber nach wie vor als Themenbereich behandelt, in dem es vor allem um männliche Erfahrungen geht.
Die Verbindung von Migrations- und Dienstmädchenforschung und der zeitliche Schwerpunkt auf die für Südtirol politisch so bedeutsamen 30er Jahre des 20. Jahrhunderts machen die vorliegende Untersuchung zu einer Pionierarbeit. Obwohl die zeitweilige Emigration von jungen Frauen sowohl in der Zwischenkriegszeit als auch in der Nachkriegszeit verbreitet war, 1wurde dieses Phänomen von der historischen Forschung bisher kaum wahrgenommen. 2Für Südtirol gibt es diesbezüglich keine Untersuchungen. Dieses Versäumnis erklärt sich nicht zuletzt aus dem lange Zeit dominierenden ethnisch geprägten bzw. eingeengten Geschichtsbild. Innerhalb dieses Interpretationsrahmens konnte zwar die Arbeitsmigration der 50er Jahre in das deutschsprachige Ausland wahrgenommen werden. Die Tatsache, dass in Zeiten, in denen der italienische Staat das Feindbild der Südtiroler Politik schlechthin war – und dies gilt für die Zeit zwischen 1920 und 1940 natürlich noch mehr als für die 50er Jahre – Südtiroler/innen einen Arbeitsplatz in einer italienischen Stadt annahmen, musste jedoch mit einem Tabu belegt werden. Nur so ist es zu erklären, dass trotz der großen Anzahl von jungen Südtiroler Frauen, die in diesen Jahren in italienischen Städten gearbeitet haben, dieses Phänomen in der zeitgenössischen Presse kaum vorkommt und auch im Nachhinein höchstens in Nebensätzen in historische Untersuchungen Eingang gefunden hat. 3Im so genannten kollektiven Gedächtnis der Südtiroler/innen hingegen waren diese Frauen doch immer präsent. So haben in den 90er Jahren verschiedene Dorf- oder Bezirkszeitungen die Lebensgeschichten einiger Frauen veröffentlicht und damit deren Erfahrungen ansatzweise sichtbar gemacht. 4
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