«Wie das Sechseläuten in Zürich», unterbrach Katrin lachend, «aber der Böögg hat sicher nichts mit Babylon zu tun».
«Ich weiß es nicht, aber nach der Besetzung Babylons durch die Perser wurde Naurus ein Fest in vielen Kulturen. Die Perser feierten dreizehn Tage lang, wer dieses Fest feiert, wird das ganze Jahr von Sonnenschein begleitet, sagen sie. Bei den Kurden heißt es Newroz», sagte Beyan.
«Hast du noch Erinnerungen an den Iran? Hat deine Familie dort dieses Fest gefeiert?», fragte mich Katrin und hakte gleich nach: «Wie lange habt ihr eigentlich in Ghom gelebt?»
«Ich bin ja in Ghom geboren und habe bis zu meinem sechsten Lebensjahr im Iran gelebt. Meine Erinnerungen daran sind etwas verblasst. Aber manche Bilder sind noch sehr präsent, und eines davon ist eben Nouruz. Wir feierten es mit einem irakischen Nachbarn. Es begann immer mit einem gründlichen Hausputz, dann bereitete meine Mutter ein großes Tablett vor. Man nennt es ‹Tablett der sieben S›. Alle sieben Dinge darauf beginnen auf Persisch mit dem Buchstaben S.»
«Wieso S?», fragte Beyan.
«Weil dieser Buchstabe in der persischen Kultur Liebe und Glück bringen soll. Auf dem Tablet soll sebse, also Spinat, in eine Art Vase gestellt werden und dazu semnou, eine Süßigkeit aus Weizen und Honig. Sier ist Knoblauch, was in diesem Glauben das Böse vertreibt und die Stärke fördert. Serke ist Essig, als Symbol der Geduld, senged sind Blätter der Linde, Symbol der Liebe, soummak sind Gewürze als Symbol für Wasser, damit das Jahr reich an Niederschlag ist. Das Letzte ist syeb, der Apfel, als Symbol für Fruchtbarkeit. Meine Mutter hatte dieses Tablett immer in die Mitte des Wohnzimmers gestellt, und daneben las Vater sieben Verse aus dem Koran vor, die alle mit dem Wort salam begannen. Am letzten Tag nahm uns Vater mit zu einem Park, in dem sich viele Familien versammelten und picknickten. Meine Schwester und ich gaben an diesem Ort unsere Münze aus, die wir zu diesem Anlass geschenkt bekommen hatten.»
«Was für ein schönes Fest. Du kennst alle diese Gebräuche und führst sie nicht weiter?», fragte mich Katrin.
«Na ja, wir haben jetzt Herbst», entgegnete Beyan lachend.
«Ja, vielleicht müsste ich das wirklich machen. Wer weiß, vielleicht helfen die Blätter der Linde der Liebe zwischen mir und Daniel wieder etwas beim Gedeihen.»
«Ich kenne keine Liebe ohne Schwierigkeiten. Manchmal stelle ich mir die Liebe als ein schönes Denkmal vor. Eines von denen, die ich in Rom oft gesehen habe. So schön wäre es gar nicht, wenn es die Schläge des Hammers eines Bildhauers nicht ertragen hätte. Ich bin kein guter Ratgeber in der Liebe, aber woran ich fest glaube, ist, dass die Liebe oft sehr wenig mit Vernunft zu tun hat. Weißt du, Aida, kurz nach meiner Ankunft in der Schweiz habe ich mich in eine Frau verliebt, die beim Arbeitsamt tätig war. Sie half mir sehr, einen Job zu finden. Ich füllte die Formulare entweder falsch oder unvollständig aus, damit ich länger bei ihr bleiben und ihre Augen betrachten durfte, während sie mir alles erklärte. In dieser Zeit begann ich die unerträgliche schweizerische Bürokratie zu lieben. Dank ihr konnte ich jede Woche vor meiner Geliebten stehen wie mein Kater vor mir, wenn ich aß.»
«Selbst Kater!», sagte Katrin lachend.
«Aber was ist denn bei euch los? Eure Liebe ist doch großartig! Möchtest du etwas erzählen?», fragte mich Beyan.
«Die Streitereien zwischen uns häufen sich, weil Daniel einen unerträglichen Druck auf mich ausübt. Er will mehr über meine Vergangenheit, die Geschichte meiner Familie und alles, was mich in die Schweiz brachte, erfahren. Und das in einem Ton, der wie ein Ultimatum wirkt. Das hat er zwar nicht gesagt, aber weil er mir immer und immer wieder diese Fragen gestellt hat, fühlt es sich so an. Ich habe mir meine Zukunft immer mit ihm vorgestellt. Aber jetzt hat er auch aufgehört, auf meine Wünsche einzugehen, zum Beispiel nach einem gemeinsamen Kind. Er hat mir, als wir vor vier Jahren zusammenzogen, versprochen, dass wir es nach seinem Studium versuchen werden. Aber jetzt hat er seinen Master gemacht und denkt nur an seinen Zivildienst und seinen Beruf. Ich bin verzweifelt.»
«Verzweiflung ist handgemacht», schob Beyan ein.
«Was habe ich denn gemacht?»
«Ganz am Anfang habe ich dir schon gesagt, dass Schweigen kein Panzerglas ist. Themen, die sich in Schweigen hüllen, werden immer attraktiver. Du solltest versuchen, ihm zu erzählen, wieso du es nicht kannst.»
«Nur daran zu denken, lässt das Entsetzen in mir hochsteigen. Wie kann ich die Unsicherheit, die seit den vielen Jahren des Schweigens in mir nistet, besiegen? Ich habe jahrelang an mir gearbeitet, um das ganze Gefäß richtig zu schleifen und irgendwo in mir verschlossen zu halten. Es fällt mir nicht leicht, es wieder zu berühren. Ich lebe mein jetziges Leben. Ich kann die Zukunft nicht mit der Tinte der Vergangenheit schreiben.»
«Ja, es ist nicht einfach, darüber zu sprechen. Aber weißt du, Schweigen ist manchmal gefährlicher als Reden, und die Liebe lebt vom Reden. Sie hat eine Lunge, und diese kann nicht ohne einen ehrlichen Mund atmen.»
Ich schwieg.
«Ja, du erklärst ihm alles. Daniel liebt dich, und er wird verstehen, warum du bis jetzt nichts erzählen konntest. Und er wird es schätzen, dass du dich ihm anvertraust», unterbrach Katrin die Stille.
«Seit wir in dieser neuen Wohnung in Basel wohnen, wurde der Druck noch größer. Ich weiß nicht, wieso ihm das so wichtig geworden ist. Ich fürchte, er hat beim Umzug mein blaues Heft gesehen.»
«Was für ein blaues Heft?», fragte Katrin.
«In diesem Heft habe ich damals Tagebuch geführt. Das war in der Zeit, als ich nach Nosches Tod kein Wort über die Lippen brachte. Mein Psychiater schlug mir vor, das aufzuschreiben, was ich nicht aussprechen könne. Ich habe auf Arabisch, Deutsch und manchmal auch auf Persisch geschrieben oder gewisse Dinge gezeichnet.»
«Hast du auch über die Flucht geschrieben?»
«Nein, und ich habe keine chronologische oder vollständige Geschichte niedergeschrieben, oft nur Stichworte, manchmal kleine Texte oder Dinge notiert, die ich dem Psychiater mitteilen wollte.»
«Ja, ich erinnere mich gut an diese schwierige Zeit. Du hast es erstaunlich gut überwunden», sagte Beyan und machte eine anerkennende Kopfbewegung.
«Ich weiß nicht, ob ich es hinter mich gebracht habe. Ich will einfach nicht stehen bleiben, auch wenn die Richtung nicht immer klar ist. Jetzt will Daniel, dass ich zu einem Punkt zurückkehre, von dem ich mich befreien will. Ich verstehe nicht, warum er die Gegenwart an die Wand der Vergangenheit nageln will?»
«Ich kann dich gut verstehen, bin aber nicht der Meinung, dass eure Liebe daran scheitern soll», sagte Katrin.
«Weißt du, Aida, ich glaube, der Mensch muss jede Gelegenheit, die sich ihm bietet, nutzen, um besser leben zu können. Besser heißt nicht unbedingt immer glücklich. Ich habe viel Schlimmes im Irak erlebt. Ich konnte vor dem Krieg fliehen, aber er will nicht von mir ablassen. Ich spüre ihn manchmal und sehe sein Gesicht. Ein Gesicht mit vielen Augen, die mich durchdringend anstarren. Immer, wenn ein Auge einschläft, wacht ein anderes auf. Mit der Zeit habe ich mir beigebracht, den Blicken auszuweichen. Zeichnen hat mir sehr geholfen, du wirst es mir nicht glauben, es hat vieles in mir rhythmisiert, und ich weiß jetzt auch, wie ich mit dem größten Trauma in meinem Leben, dem Krieg und der Flucht und dem Leben in der Fremde, umgehen kann.»
Ich erwiderte nichts und versank in meinen Gedanken. Wieso scheiterte ich immer wieder, meinen Eltern ganz zu verzeihen? Mir war einiges klar, aber warum sie in die Schweiz flüchteten, obwohl sie kein Interesse an diesem Land hatten, verstand ich nicht. Ich fand immer neue Antworten, aber die Frage blieb. Als blickte ich bei Regen durch eine Windschutzscheibe. Die Scheibenwischer klären kurz die Sicht, doch das Wetter ändert sich trotzdem nicht. Ich war zufrieden mit dem, was ich in der Schweiz erreicht hatte. Ich schätzte die Freiheit und das Leben und mochte meine Arbeit. Das Vakuum, das Nosches Tod in mir verursacht hatte, konnte ich mit Hoffnung füllen.
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