HANS-DIETRICH RECKHAUS
FLIEGEN LASSEN
Wie man radikal und konsequent neu wirtschaftet
INHALT
VORWORT
STUFE 1 IN BEWEGUNG SETZEN
STUFE 2 NEUE IDEE NICHT GLEICH DER ÖKONOMIE OPFERN
STUFE 3 STARKEN IMPULS SETZEN, DER DIE WEICHEN RICHTUNG ZUKUNFT STELLT
STUFE 4 ZEIT DER IGNORANZ NUTZEN. EXPERTE WERDEN
STUFE 5 MITSTREITER FINDEN. VORSPRUNG AUSBAUEN
STUFE 6 DIE IDEE ZU ENDE DENKEN. VORSPRUNG WEITER AUSBAUEN
STUFE 7 VERTRAUEN HABEN: DER ERSTE DURCHBRUCH KOMMT
STUFE 8 DINGE SICH ENTWICKELN LASSEN
STUFE 9 KEINE ANGST VOR NACHAHMERN HABEN
STUFE 10 ES GIBT KEIN ZURÜCK MEHR, NUR EIN KONSEQUENTES NACH VORN
STUFE 11 FLIEGEN LASSEN
POSTSCRIPTUM VON FRANK UND PATRIK RIKLIN
INSEKTEN SCHÜTZEN UND FÖRDERN
BÜCHER UND LINKS
ÜBER DEN AUTOR
VORWORT
»Wollen wir möglichst viel Geld verdienen und
damit etwas Sinnvolles leisten, Geld spenden,
Stiftung gründen? Oder wollen wir möglichst viel
Sinnvolles leisten und damit Geld verdienen?«
Insekten können einen ziemlich plagen. Wie Fruchtfliegen, die im Sommer unsere Obstteller erobern. Oder Mücken, die uns nachts nicht schlafen lassen. Insofern habe ich mir keine großen Gedanken gemacht, als ich 1995 den Betrieb meiner Eltern übernehmen durfte. Ein mittelständisches Unternehmen in Bielefeld, das Insektentötungsmittel für die Anwendung im Haus herstellt. Nicht gerade aufregend, aber doch gut und richtig.
Wie meine Branchenkollegen, die sich mitunter um viel größere Probleme kümmern – Kahlfraß von Wäldern und Ernten, Übertragung gefährlicher Krankheiten – haben auch wir immer neue Lösungen entwickelt, den »Ungeziefern« zu Leibe zu rücken. Möglichst effizient und preiswert. Gedanken über den Wert von Insekten: Fehlanzeige. Wissen über Insektenrückgänge: nicht vorhanden. Schließlich wurden damals nur die negativen Auswirkungen der Sechsbeiner in den Medien beschrieben. Studien zum Insektensterben schafften es erst Ende 2017 an die Oberfläche.
Wie gesagt, ich habe darin kein Problem gesehen, bis ich 2011 mit einer aus meiner Sicht innovativen Fliegenfalle zu den Schweizer Konzeptkünstlern Frank und Patrik Riklin ging. Eigentlich wollte ich nur eine originelle Idee, um mein neues, insektizidfreies Tötungsprodukt schneller in die Regale der großen Händler zu bekommen. Doch stattdessen sagten mir die beiden offen ins Gesicht: Deine Produkte sind einfach nur schlecht. Wie viel Wert hat eine Fliege für dich? Anstatt Insekten zu töten, musst du Insekten retten!
Diese drei Sätze haben meine Welt aus den Angeln gerissen. Wie gerne hätte ich versucht, die aufgestoßenen Türen wieder zu verschließen. Doch schließlich habe ich mich der unbequemen Realität gestellt und mein Geschäftsmodell aus einer neuen Perspektive betrachtet: Was mache ich eigentlich den ganzen Tag? Woher nehme ich das Recht, im großen Stil Insektentötungsprodukte herzustellen und Nutzer zu ermutigen, sie anzuwenden – ohne darüber aufzuklären, welcher immense Schaden dabei entsteht? Was läuft nicht nur bei mir falsch, sondern auch bei meinen Mitstreitern?
Inzwischen hat meine Branche für so gut wie jedes Insektenproblem eine Lösung parat. Die Umsätze zeigen seit Jahrzehnten nach oben oder sind zumindest stabil. Doch anstatt sich zufriedenzugeben, versuchen alle krampfhaft weiterhin auf Wachstumskurs zu bleiben. Nur, wie schafft man das, wenn der Markt gesättigt ist und die Kunden nicht mehr Produkte brauchen? Man verführt. Redet Menschen Bedürfnisse ein, von denen sie nicht wussten, dass sie sie überhaupt haben. Indem man Produkte
Für UNVERZICHTBAR ERKLÄRT, Insekten sind schädlich und eklig, wir helfen Ihnen, Ihr Heim zu verteidigen, Ihre Familie zu schützen;
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Ein insektizidhaltiges Insektenspray mit 400 Milliliter Inhalt ist im deutschen Handel für 1,25 Euro inklusive 19 Prozent Mehrwertsteuer zu haben. Ein insektizidhaltiges Mottenpapier mit 20 Blatt gibt es für 95 Cent. Bei solchen Preisen überlegt der Kunde nicht lange. Er greift zu – für alle Fälle.
Wenn wir ehrlich sind, hat sich schon lange das Sinnverhältnis verschoben: vom sinnvollen Produktangebot hin zum Überkonsum. Das gilt nicht nur für meine Branche.
Städte kollabieren unter zu viel Verkehr – Automobilhersteller bewerben ihre immer größeren und schwereren Fahrzeuge mit glücklichen Familien und unberührter Natur.
Jedes Jahr landen allein in Deutschland 1,3 Millionen Tonnen an Kleidung nur in der Resteverwertung, Tendenz weiter steigend 1 – Fast-Fashion-Konzerne fluten ihre Shops alle paar Wochen mit neuer, billigst produzierter Trendware …
Wer hier auf den kritischen, aufgeklärten Kunden setzt, der durch sein Einkaufsverhalten den Markt in seine Schranken weisen wird, macht es sich zu einfach. Wir alle wissen: Kunden lassen sich verführen. Weil sie letztlich unseren Botschaften Glauben schenken wollen – und darauf vertrauen, dass schon alles seine Richtigkeit hat. Dass das Unternehmen verantwortungsvoll und vorausschauend handelt, kurz: seinen Job macht.
Dass dieses Vertrauen nicht komplett aufgebraucht ist, liegt daran, dass die Auswirkungen hier bei uns noch nicht in aller Konsequenz und Härte zu spü-
ren sind. Die wahren ökologischen und sozialen Kosten für unsere Produkte haben wir im großen Stil externalisiert. Doch der Wind dreht sich. Nicht nur Jugendliche sagen uns, dass wir für ihre Zukunft noch etwas übrig lassen sollen, sondern auch der gesunde Menschenverstand. Der aktuelle Ressourcenverbrauch unserer Gesellschaft liegt bei 2,5 Erden – wir haben nur eine.
Ich möchte nicht ins Horn jener stoßen, die seit Jahren das Zeitalter der Postwachstumsökonomie und des großen Verzichts ausrufen. Wir müssen nicht weniger wirtschaften und wachsen, sondern anders! Sinnlos aufgeblasene Märkte zurückdrängen und stattdessen neue nachhaltigkeitsorientierte Märkte aufbauen. Dafür benötigen wir unser ganzes unternehmerisches Geschick. Kopf, Herz und Hand. Und den Mut, Erfolg neu zu definieren und dabei Inhalt über Geld zu stellen, Sinn vor Kommerz.
In diesem Buch lasse ich die vergangenen zehn Jahre Revue passieren. Von der Entwicklung einer insektizidfreien Fliegenfalle über die Begegnung und die Zusammenarbeit mit den Künstlern Frank und Patrik Riklin und unserer gemeinsamen Aktion Fliegen retten in Deppendorf, bis hin zur Anlage insektenfreundlicher Kompensationsflächen, der Etablierung des Gütesiegels »Insect Respect« und der Präsentation einer weltweit einzigartigen Lebendfalle für Fliegen.
Meine Transformation vom Insektentöter zum Insektenretter ist noch nicht abgeschlossen. Ich befinde mich auf dem Weg. Ob es gelingen wird? Ich bin zuversichtlich, doch es gibt keine Sicherheit. Aber was ist schon sicher? Im Grunde nur, dass wir uns verrannt haben. Unendliches Wachstum in einer endlichen Welt sorgt nicht für mehr Wohlstand und Wohlergehen, sondern für Verarmung an Natur, Leben und Sinn.
Mein ganz besonderer Dank gilt den beiden Künstlern Frank und Patrik Riklin. Sie haben mir nicht nur die Augen geöffnet. Sie haben mir auch gezeigt, dass wirklich Neues nur dann entsteht, wenn man sich ganz und gar einlässt und einen Weg zu Ende geht, von A bis Z.
Insofern ist dieses Buch eine Ode an die Insekten, die so viel für uns Menschen und unseren Planeten leisten; an ein Unternehmertum, das Zahlen und Bilanzen hinter Ethik, Haltung und Aufrichtigkeit rückt; und an die Kunst, die uns den Wahnsinn, den wir uns jeden Tag leisten, als solchen erkennen lässt.
Anmerkung: In der folgenden Transformationsgeschichte haben wir die Namen einiger Protagonisten geändert.
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