Gegen Morgen stand ich schließlich auf und ging zum Bücherregal. Ich beschloss, jeden Tag einen Text in dem arabischen Gedichtband, den ich auf einem Flohmarkt in Basel gefunden hatte, zu lesen. «Versuch, den Tag mit Poesie zu beginnen! Glaub mir, es wird deinen Tag beeinflussen», hatte mir eine Arbeitskollegin gesagt.
«Es geschah an einem regnerischen Tag, dass ein Schüler der Dorfschule zum Fenster seiner Klasse hinausschaute und die Sonne und einen Fluss in sein Notizbuch zeichnete. Dann schrieb er Wörter darunter und steckte sein Notizbuch wieder in seine Mappe zurück. Als die Sonne untergegangen war, wunderten sich die Bewohner über das rätselhafte Licht, das von einer der Hütten ausging. Das Licht strebte auf den Dorfhimmel zu. Es enthüllte Wörter, die in einer kindlichen Schrift geschrieben waren, und ein Boot, das Richtung Sonne segelte.»
Ich schlug das Buch zu, ging zum Fenster und öffnete es. Die herbstliche Morgensonne warf sich auf den Baum des Nachbarn und ließ die gelbe Farbe vor meinen Augen explodieren. Alles war rein und deutlich. Abgesehen von ein paar kleinen Wolken, die sich über den Himmel verstreuten, gab es keine Ablenkung.
Am Bahnhof Basel warteten wir auf Daniels Zug. Eine Verspätung von zwölf Minuten wurde angekündigt. Wir standen nebeneinander. Ich berührte seine Hand, er drückte meine und sagte: «Ich liebe dich.»
«Ich dich auch», entgegnete ich und gab ihm die Mütze mit den Ohrenklappen, die ich ihm zu seinem letzten Geburtstag gestrickt hatte.
Als der Zug in den Bahnhof einfuhr, merkte ich, dass die Zeit zu schnell zu verrinnen begann, und ich blickte auf die Schienen, die von dem einfahrenden Zug verschluckt wurden. Ich hatte das Gefühl, mein ganzes Leben läge auf dieser kürzer werdenden Strecke, leichte Panik ergriff mich.
Vor der Zugtür umarmten wir uns. Auf dem Perron dachte ich an das Tablett meiner Mutter. An die Körner, die ich aus meinem Leben entfernen müsste. Ich blickte dem wegfahrenden Zug nach, bis er verschwunden war, dann ging ich nach Haus.
Ich habe arabische Musik gehört, doch nach einer gewissen Zeit musste ich sie abstellen. Auch die Filmkomödie, die ich aus der Bibliothek mitgenommen hatte, brachte ich nicht zu Ende. Drei Tage sind vergangen, seit Daniel abgereist ist. Die Wohnung fühlt sich fremd an ohne ihn. Alles scheint seltsam und distanziert, sogar mein Lieblingsstuhl, auf dem ich immer lese. Ich bin einsam wie ein Stein, der von der Decke einer dunklen Bühne fällt.
Auch meine Bücher helfen mir dieses Mal nicht. Das Lesen als Rettungsring habe ich früh entdeckt. Meine Mutter hatte nur erstaunt zugesehen, wie ich mich über die Bücher beugte und eins nach dem anderen verschlang. Damals vor allem Jugendromane, aber ich las alles, was mir unter die Augen kam, ich vertiefte mich so auch in die deutsche Sprache. Mein Vater ärgerte sich, wenn meine Schwester und ich mit einem Gemisch aus Deutsch und Arabisch untereinander sprachen. «Ihr müsst richtig Arabisch reden und nicht ständig in dieser Sprache palavern.»
Ich liebe es mehr, auf Arabisch zu schreiben als zu lesen. Wenn ich den Kugelschreiber von rechts nach links gleiten lasse, versuche ich, den Buchstaben viel Raum anzubieten auf dem weiten Papier. Mein Vater hatte uns viel von der Kunst der arabischen Kalligrafie beigebracht. Er hatte kleine Texte und Gedichte gezeichnet. «Jedes Mal, wenn ich einen Text mit dem Wort watan, Heimat, schreibe, habe ich das Gefühl, dass der Euphrat mitten durch das Papier fließt. Der Euphrat bewässert die Buchstaben, reißt die traurigen Worte in seinem Strom mit und lässt die Verben leuchten wie das Spiegelbild der Sterne auf dem Fluss, wenn er zur Ruhe gekommen ist», schrieb er. Ich beobachtete ihn und las wie er. Einmal betrat mein Vater den Raum, als ich gerade einem imaginären Publikum eine seiner Handschriften vorlas. Ich fühlte mich ertappt, und es war mir peinlich. Aber er lachte nur herzlich, weil er bemerkt hatte, dass ich meine Kuscheltiere als Publikum versammelt hatte und ihnen das arabische Gedicht vortrug.
Heute noch tue ich das manchmal. Ich sage laut Gedichte auf und stelle mir das Publikum dazu vor. Oder ich trage sie Bäumen vor oder Spielzeugen, welche die Kinder in einem Sandkasten vergessen haben, oder leeren Stühlen im Gruppenraum der Bibliothek oder Tieren auf einem Spaziergang. Hauptsache ein Publikum, das mich nie fragt, seit wann ich in der Schweiz bin oder wo meine Familie ist. Ein Publikum, das versteht, dass das Wort watan für mich trocken bleibt, egal wie viele Flüsse hindurchfließen. Beim Vortragen sehe ich das Gesicht meines Vaters vor meinen Augen.
Gestern Abend habe ich diese alte Gewohnheit wieder aufgenommen. Ich habe meinen arabischen Gedichtband hervorgeholt und darin gelesen. Aber auch hier fand ich keine Ruhe, ein Gefühl der Entfremdung hatte mich erfasst. Ich nahm mein Handy und schrieb Daniel eine SMS: «Lieber Daniel, ich hoffe, du bist gut angekommen. Danke für deine kurze Nachricht. Ich vermisse dich, doch das ist nicht das Einzige, was mich antreibt, dir jetzt zu schreiben. Deine Worte beschäftigen mich. Dass die Ehrlichkeit selten sei und dass eine Beziehung ohne diese es nicht wert sei, weiterzubestehen. Ich bin nicht perfekt, aber ich bin ehrlich. Was willst du denn von mir wissen? Die Vergangenheit schreit in meinem Kopf wie ein verletzter Wolf, jede Nähe zu ihm signalisiert mir Gefahr.»
Doch anstatt «Senden» zu drücken, löschte ich die Nachricht wieder. Ich musste nach Frauenfeld, sagte ich mir und beschloss, Beyan und Katrin anzurufen. Ich brauchte jemanden, der mir zuhörte. Und wer konnte das sein außer Beyan?
Beyan ist Künstler und Geigenspieler. Wie er sich kleidet, macht ihn auffällig, unübersehbar. Als Nosche und ich Kinder waren, wünschten wir, dass Beyan unser Vater wäre. Am Wochenende gingen wir oft abends in Begleitung von Vater zu ihm, und er unterstützte uns in Mathematik und Deutsch. Nach der Lektion erlaubte er uns, die Fotoalben in seiner Bibliothek anzuschauen. Geduldig beantwortete er alle unsere Fragen. Auch diejenigen, die mit seiner eigenen, wohl schmerzhaften Kindheit zu tun hatten.
Beyan war 1980 geflohen, weil er nicht in den Krieg wollte. Ein paar Monate lebte er mit gefälschten Papieren in Bagdad, dann gab die Partei sein Todesurteil bekannt, und der militärische Geheimdienst begann, ihn zu suchen. Er tauchte unter und verließ bald den Irak. «Dank der mutigen Hilfe einer Verwandten gelang mir die Flucht. Ich glaube, ich war der erste irakische Flüchtling hier im Thurgau», erzählte uns Beyan.
Er erzählte uns auch von Bagdad, von seiner Liebe zu Kunst und Musik, dass er studieren wollte, aber leider nicht zugelassen wurde, weil er kein Baath-Parteimitglied war. Er arbeitete als Straßenkünstler in alten Quartieren der immer moderner werdenden Stadt. Mit seinen Verwandten bastelte er Drachen aus buntem Papier, die er jeden Freitagmorgen im Vogelpark verkaufte. Damit schlug er sich durch.
Wenn Beyan von Bagdad erzählte, sah er aus, als würde er von einer Geliebten sprechen. Beyan ist mutig; einmal mischte er sich ein, als mein Vater sich weigerte, Nosche und mich ins Winterlager in die Berge gehen zu lassen. Es war für uns beinahe ein Weltuntergang, weil wir die Einzigen in der Klasse waren, die zu Hause bleiben mussten. Erfolglos versuchte Beyan, unseren Vater zu überzeugen. Am Schluss sagte er zu meinem Vater: «Dein Festhalten an den irakischen Traditionen kann Schaden anrichten und die Zukunft deiner Kinder zerstören.» Dass Beyan sich auf die Seite unseres Klassenlehrers schlug, hat mein Vater ihm nicht verziehen, und er beschränkte die Beziehung zu ihm auf das Nötigste. Wir waren enttäuscht, vor allem, weil die Wochenendbesuche abrupt aufgehört hatten. Die Distanz zwischen den beiden wurde noch größer, als Beyan mit seiner Schweizer Freundin Katrin zusammenzog.
Читать дальше