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Innerhalb der Rechtsetzungskompetenzen der EU kann der Anwendungsvorrang des Unionsrechts jedoch im Einzelfall auch Auswirkungen über den Wortlaut des nationalen Gesetzes hinaus haben, wenn dies notwendig ist, um die Effektivität des Rechts der Europäischen Union zu wahren und die Union von ihrer Rechtsetzungskompetenz bereits Gebrauch gemacht hat. Der EuGH hat in der Entscheidung Taricco [9] vom 8.9.2015 dementsprechend für eine italienische Verjährungsvorschrift entschieden, dass die Regelung durch das nationale Strafgericht grundsätzlich nicht angewendet werden darf, wenn dies dazu führen würde, dass eine effektive Verfolgung von Mehrwertsteuerhinterziehungen, -missbrauch oder -umgehungen nicht verhindert oder geahndet werden kann. Der EuGH betont in dieser Entscheidung die Verpflichtung der Mitgliedstaaten aus Art. 325 AEUV rechtswidrige Handlungen zu bekämpfen, die sich gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union richten. Solchen Taten sei mit abschreckenden und wirksamen Maßnahmen zu begegnen.[10] Aufgrund des unmittelbaren Zusammenhangs zwischen den Eigenmitteln der Union und der Mehrwertsteuer gelte diese Verpflichtung auch für den Bereich der Mehrwertsteuer. Grundsätzlich seien die Mitgliedstaaten zwar frei darin, ob sie Verwaltungssanktionen oder Kriminalstrafen als Mittel der Bekämpfung des Mehrwertsteuermissbrauchs wählen, jedoch seien strafrechtliche Maßnahmen im Bereich schweren Mehrwertsteuerbetrugs unerlässlich. Zumindest in schweren Betrugsfällen, müsse das nationale Recht nach Art. 2 Abs. 1 des PIF-Abkommens auch Freiheitsstrafen vorsehen.[11]
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In dem zu entscheidenden Fall sah die Große Kammer des Gerichts diese Effektivität dadurch beeinträchtigt, dass die vom nationalen Gericht abzuurteilenden schweren Fälle von Mehrwertsteuerbetrug durch eine kriminelle Vereinigung nach italienischem Strafrecht nach höchstens acht Jahren und neun Monaten – einschließlich aller Verlängerungen und Ruhensphasen – verjährten. Dies führte nach der Darstellung des vorlegenden Gerichts dazu, dass bereits im Jahr 2014 absehbar war, dass die Durchführung des Strafverfahrens in allen Instanzen nicht bis zur Verjährung im Jahr 2018 erfolgt sein würde, die Taten mithin nicht bestraft werden könnten. Der EuGH stellte daher fest, dass eine nationale Verjährungsvorschrift, die dazu führt, dass schwere Fälle von Mehrwertsteuerbetrug in einer großen Zahl nicht sanktioniert werden können, weil sie regelmäßig verjährt sind, bevor eine endgültige Entscheidung ergehen kann, zur mangelnden Abschreckung und Wirksamkeit des nationalen Strafrechts führt.[12] Soweit das nationale Gericht zu dem Ergebnis komme, dass die nationalen Bestimmungen unter dieser Maßgabe dem Unionsrecht nicht genügen, seien sie ggf. unangewendetzu lassen, um die Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten.[13]
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Für den Fall der Nichtanwendung einer solchen, den Beschuldigten begünstigenden Bestimmung hat der EuGH allerdings angemahnt, dass die Grundrechte des Beschuldigten zu wahren sind. Der Anwendungsvorrang könne hier nämlich dazu führen, dass Sanktionen verhängt werden, denen die Beschuldigten wahrscheinlich nicht hätten unterworfen werden können, wenn die Bestimmungen des nationalen Rechts angewendet worden wären. Doch weist die Große Kammer auch darauf hin, dass Art. 49 der GRCh nicht verletzt wäre, wenn man ohne ausdrückliche gesetzliche Grundlage die Verjährungsvorschriften ablehnte, weil weder eine Handlung oder Unterlassung unter Strafe gestellt wäre, die vorher nicht strafbar war, noch eine Sanktion verhängt würde, die zuvor nicht angedroht wurde. Vor einer Aussetzung der Verjährung, die die Strafbarkeit als solche nicht betreffe, schütze weder Art. 49 GRCh noch Art. 7 EMRK.[14] Verjährungsrecht ist nach Auffassung des EuGH also – wie nach der h.M. im deutschen Strafrecht – Verfahrensrecht und unterfällt daher nach h.M. nicht dem Anwendungsbereich des Bestimmtheitsgrundsatzes und des Analogieverbots.
b) Verfassungsidentität und Effektivität des Unionsrechts (M.A.S. & M.B.)
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Bevor sich die Wirkungen dieser Entscheidung richtig abzeichnen konnten, hat die Große Kammer auf Vorlage des italienischen Verfassungsgerichts erneut über diese Fallgestaltung entscheiden und ihre Ausführungen präzisieren müssen. In der Entscheidung M.A.S. vom 5.12.2017[15] bestätigte der Gerichtshof zunächst grundsätzlich seine Taricco -Rechtsprechung und stellt fest, die nationalen Gerichte seien aus Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV verpflichtet, in Strafverfahren wegen Mehrwertsteuerstraftaten innerstaatliche Verjährungsvorschriften, die der Verhängung wirksamer und abschreckender strafrechtlicher Sanktionen in einer beträchtlichen Anzahl von gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union gerichteten schweren Betrugsfällen entgegenstehen oder für schwere Betrugsfälle zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Union kürzere Verjährungsfristen vorsehen als für Fälle zum Nachteil der finanziellen Interessen des betreffenden Mitgliedstaats, auch dann unangewendet zu lassen, wenn sie zum nationalen materiellen Recht gehören. Eine Ausnahme lässt der EuGH jedoch für den Fall zu, dass ihre Nichtanwendung wegen mangelnder Bestimmtheit der anwendbaren Rechtsnorm oder wegen der rückwirkenden Anwendung von Rechtsvorschriften, die strengere Strafbarkeitsbedingungen aufstellen als die zum Zeitpunkt der Begehung der Straftat geltenden Rechtsvorschriften, zu einem Verstoß gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen führt.
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Diese auch als Taricco II bezeichnete Entscheidung wird z.T. als Kehrtwende in der Rechtsprechung des EuGH und als konkludente Bestätigung des Vorbehalts der Verfassungsidentität angesehen.[16] Der italienische Verfassungsgerichtshof hatte den Sachverhalt nämlich zur Beantwortung der Frage vorgelegt, ob ein nationales Gericht die verfassungsrechtlich vorgesehenen Garantien (Gesetzlichkeitsprinzip) unbeachtet lassen muss, um dem Unionsrecht zur effektiven Durchsetzung zu verhelfen. Der EuGH hat hier nach der wohl überwiegenden Ansicht der Verfassungsidentität einen Platz eingeräumt und dem nationalen Verfassungsrecht die Entscheidung überlassen, wie weit der Schutz durch den Nullum-crimen-Grundsatz gehen soll, indem ihm die Entscheidung zusteht, was straf- und strafbarkeitsbestimmende Vorschriften sind. Hier wird nach Burchardt[17] die Absolutheit des Vorrangs des Unionsrechts gegenüber dem nationalen Verfassungsrecht ein Stück weit zurückgenommen.
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Doch sollte sich die nationale (Verfassungs-)gerichtsbarkeit keinesfalls darauf verlassen, dass der EuGH die Behauptung, durch die Durchsetzung des Unionsrechts sei die Verfassungsidentitätbetroffen stets ungeprüft hinnehmen wird.[18] Vielmehr wird der EuGH insofern zumindest die bereits vom Generalanwalt Bot in seinem Schlussantrag angedeutete Plausibilitätskontrolle durchführen, so dass nur elementare Garantien vom Gewicht des Gesetzlichkeitsprinzips und des Schuldgrundsatzes[19] zur Verfassungs identität gehören dürften. Es geht also um den unantastbaren Kern des Grundgesetzes.[20] Schon bei einzelnen Ausprägungen des Nemo-tenetur-Grundsatzes hat das BVerfG die Verfassungsidentität nicht mehr berührt gesehen, weil dieser Grundsatz nur im Kernbereich zur Verfassungsidentität gehöre.[21]
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Der Entscheidung des EuGH in Sachen M.A.S. & M.B . könnte noch eine weitere Relativierung des Schutzes der nationalen Grundrechte entnommen werden. Denn die Große Kammer formuliert ihre These von der Berücksichtigung nationaler Verfassungsidentität vor dem Hintergrund des Vorbehalts einer nur teilweise erfolgten Harmonisierung:
Im vorliegenden Fall waren die Rechtsvorschriften über die Verjährung von Straftaten im Bereich der Mehrwertsteuer zu der im Ausgangsverfahren maßgebenden Zeit auf Unionsebene noch nicht harmonisiert. Dies ist erst durch die Richtlinie (EU) 2017/1371 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2017 über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtetem Betrug (ABl. 2017, L 198, S. 29) teilweise geschehen. Es stand der Italienischen Republik damals also frei, zu bestimmen, dass die Rechtsvorschriften über die Verjährung ebenso wie die Rechtsvorschriften über die Straftatbestände und das Strafmaß zum materiellen Strafrecht gehören und deshalb wie Letztere dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen unterliegen. [22]
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