[1]
Vgl. auch Sieber/Satzger/v. Heintschel-Heinegg/ Satzger § 9 Rn. 39 ff.; Schönke/Schröder/ Eser / Hecker Vor § 1 Rn. 28; ferner OLG München NJW 2006, 3588 ff.; OVG Münster NVwZ 2006, 1078 ff.; krit. zur Reichweite des Anwendungsvorrangs Rönnau / Wegner GA 2013, 561 ff.
[2]
Vgl. hierzu Kubiciel NStZ 2007, 136, 137 m.w.N.: Das Strafrecht ist, keine gemeinschaftsrechtliche Tabuzone .
[3]
EuGH EuZW 2005, 369, 372 – Berlusconi; krit. Wegener / Lock EuR 2005, 802 ff.; vgl. auch Wabnitz/Janovsky/ Dannecker / Bülte Kap. 2 Rn. 251, 250 ff.
[4]
EuGH EuZW 2005, 369, 372 – Berlusconi; ferner Wabnitz/Janovsky/ Dannecker / Bülte Kap. 2 Rn. 209 ff.
2. Kapitel Europäisierung des Strafrechts› IV. Unionsrechtskonforme Auslegung
IV. Unionsrechtskonforme Auslegung
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Der Auslegungskanon der vier klassischen Methoden ist im Strafrecht allgemein bekannt.[1] Doch neben die grammatikalische, die systematische, die historische und die teleologische Auslegung und die Kontrolle durch eine verfassungskonformeAuslegung tritt die unionsrechtskonforme Auslegung von Strafvorschriften. Diese führt dazu, dass Strafvorschriften – in den Grenzen ihres Wortlauts ( Rn. 81 ff.)[2] – an den Zielen der Unionspolitik ausgelegt werden müssen. Das bedeutet, dass bei jeder Anwendung einer Strafvorschrift im europäischen Kontext eine richtlinien-, rahmenbeschluss-und gesamtunionsrechtskonformeAuslegung erfolgen muss.[3] Damitmüssen bei der Interpretation von Strafgesetzen stets die Ziele und Politiken des Unionsrechts berücksichtigt werden, soweit sie für die Anwendung der konkreten Strafnorm Bedeutung haben können. Das stellt den Rechtsanwender dann vor eine besondere Herausforderung, wenn das Unionsrecht nur einen mittelbaren Bezug zum Strafrecht aufweist. Dies verdeutlicht insb. die Entscheidung des EuGH in der Sache Cowan, [4] in der es um Schadensersatzansprüche eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaates ging, der Opfer einer Straftat geworden war. Der EuGH hat hier deutlich gemacht, dass auch den Opfern von Straftaten innerhalb der Europäischen Union unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit die gleichen Rechte zustehen müssen. Das kann dazu führen, dass eine Vorschrift des nationalen Rechts, die bestimmte Rechte ausdrücklich nur für eigene Staatsangehörige vorsieht, über den Wortlaut hinaus unionsrechtskonform so ausgelegt werden muss, dass auch Angehörige von Mitgliedstaaten erfasst und damit berechtigt sind.
[1]
Ausführlich zur strafrechtlichen Gesetzesauslegung LK-StGB/ Dannecker § 1 Rn. 291 ff.
[2]
Vgl. auch bereits Hugger NStZ 1993, 421 ff.; Dannecker JZ 1996, 869, 873, 878.
[3]
Zu den Einzelheiten Wabnitz/Janovsky/ Dannecker / Bülte Kap. 2 Rn. 286 ff.; ferner Dannecker JZ 1996, 869, 871 ff.; Hugger NStZ 1993, 421 ff.
[4]
EuGH NJW 1989, 2183 – Cowan; ferner Rengeling/Middeke/Gellermann/ Dannecker / N. Müller § 39 Rn. 38.
2. Kapitel Europäisierung des Strafrechts› IV. Unionsrechtskonforme Auslegung› 1. Richtlinienkonforme Auslegung
1. Richtlinienkonforme Auslegung
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Eine besondere Ausprägung findet die unionsrechtskonforme Auslegung in der richtlinienkonformen Auslegung, die dem Bürger die Berufung auf Richtlinien des Unionsrechts erlaubt.[1] Richtlinien können unmittelbare Wirkung auf das Strafrecht entfalten, wenn sie verbindlichen Charakter haben und hinreichend bestimmtsind. In der Entscheidung Kortas [2] hatte der EuGH deutlich gemacht, dass die Bestrafung des Importeurs eines mit einem in Schweden nicht zugelassenen Farbstoff gefärbten Lebensmittels nach schwedischem Strafrecht unzulässig sei, wenn der Farbstoff im Anhang einer europäischen Richtlinie als zulässig aufgeführt war. Dies gelte selbst dann, wenn die Kommission über den Antrag Schwedens, den Farbstoff nach nationalem Recht nicht zulassen zu dürfen, längere Zeit nicht entschieden hat.[3]
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Ein Unionsbürger kann sich ferner auf eine verbindliche und in ihrer konkreten Regelung hinreichend bestimmte Vorschrift einer Richtlinie berufen, wenn diese noch nicht umgesetztworden ist. Der EuGH hat bereits in der Entscheidung Ratti [4] ausgeführt, dass es mit dem verbindlichen Charakter der Richtlinie nicht vereinbar sei, wenn sich der Adressat nationaler Strafvorschriften nicht auf den Inhalt einer Richtlinie berufen könne, weil der Mitgliedstaat sie nicht umgesetzt habe. Der säumige Staat könne sich gegenüber dem Adressaten seiner nationalen Norm nicht auf eine mangelnde Pflichterfüllung gegenüber der Union berufen. Eine nationale Strafnorm dürfe nicht angewendet werden, wenn diese zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Sanktion einer zwingend umzusetzenden Richtlinie widerspräche. Die Berufung auf eine Richtlinie sei auch dann möglich, wenn die Umsetzungsfrist erst nach der Tat, aber vor der Entscheidung des Strafgerichts über die Tat abgelaufensei. Dies machte der EuGH in der Entscheidung Arblade und Leloup [5] deutlich und berief sich hierbei auf den europäischen Grundsatz lex mitior.[6] Der EuGH hat in der Entscheidung Awoyemi [7] auch Bürgern aus Drittstaaten, die ihren Wohnsitz in der Europäischen Union haben, das Recht zugesprochen, sich auf eine Richtlinie zu berufen, soweit sich der Betroffene gegen einen Rechtsakt eines Mitgliedstaates wendet, der von der Richtlinie betroffen ist.
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Der BGH hat in einer Entscheidung zum Betrug mit sog. Abo-Fallen im Internet[8] ausgeführt, die richtlinienkonforme Auslegung unterliege Grenzen. Sie setze grundsätzlich erst dann ein, wenn der Inhalt der Richtlinie insgesamt oder im angewendeten Bereich eindeutig sei. Auch für das Strafrecht hat der 2. Strafsenat einen absoluten Vorrang der richtlinienkonformen Auslegung mit der Begründung abgelehnt, dieser Vorrang liefe Gefahr mit der eingeschränkten Rechtsetzungskompetenz der Europäischen Union auf dem Gebiet des Strafrechts und dem Grundsatz der möglichst weitgehenden Schonung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen in Konflikt zu geraten. Daher könnten Richtlinienvorgaben nicht in jedem Fall vorbehaltlos in das Strafrecht übertragen werden, zumal der Richtliniengeber die Auswirkungen einer anderen Lebensbereiche betreffenden Richtlinie auf das Strafrecht eines jeden Mitgliedstaats mitunter nicht im Blick gehabt hat bzw. haben kann. Dabei sei ferner zu beachten, dass der normative Gehalt einer nationalen Vorschrift im Wege der richtlinienkonformen Auslegung nicht grundlegend neu bestimmt werden darf. Daraus folgert nun der BGH, dass eine einschränkende Auslegung des Betrugstatbestandes aufgrund der Richtlinie 2005/29/EG ausscheidet. Das Leitbild eines „durchschnittlich verständigen und aufmerksamen Verbrauchers“ ziele darauf ab, diesen in seiner Dispositionsfreiheit generalpräventiv vor unlauteren Beeinflussungen vor, bei oder nach Vertragsabschluss zu schützen und damit seine (rechtsgeschäftliche ) Entscheidungsfreiheit unmittelbar den Schutz der Mitbewerber sowie einen unverfälschten Wettbewerb zu gewährleisten. Das Ziel dieser Richtlinie gebiete es gerade nicht, den Betrugstatbestand des nationalen Strafrechts einschränkend auszulegen. Die Richtlinie verfolge nicht den Zweck, Geschäftspraktiken straffrei zu stellen, die zu einer Verletzung von Rechtsgütern der Verbraucher führen und Verhaltensweisen zu privilegieren die auf die Täuschung unterdurchschnittlich aufmerksamer und verständiger Verbraucher gerichtet sind. [9] Daher könne sich niemand auf die Richtlinie berufen, um irreführende Geschäftspraktiken, die der gezielten Täuschung von Verbrauchern zur Vermögensschädigung dienen, zu legalisieren. Ferner sieht der BGH eine richtlinienkonforme Auslegung, die den unterdurchschnittlich aufmerksamen und verständigen Verbraucher vom Täuschungsschutz nicht erfasst, als unzulässig an, weil eine solche Auslegung dem „durch § 263 StGB intendierten Rechtsgüterschutz widerspräche“.
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