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Bereits am 9.7.2012 war ein Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union gerichtetem Betrugvorgelegt worden.[1] Die Richtlinie sollte das Übereinkommen vom 26.7.1995 ersetzen und eine Harmonisierung des nationalen Rechts zur Bekämpfung von Angriffen auf die Unionsfinanzen herbeiführen. Nach einigen Änderungen aufgrund parlamentarischer Diskussionen trat am 20.8.2017 die Richtlinie 2017/1371 vom 5.7.2017[2] in Kraft, die bis zum 6.7.2019 umzusetzen ist.
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Die Richtlinie enthält in Art. 3 Abs. 2 lit. c und d Vorgaben über die Strafbarkeit des Mehrwertsteuerbetrugs im nationalen Strafrecht. Ferner beinhaltet Art. 4 eine Strafpflicht für die Geldwäsche, die Bestechung und Bestechlichkeit sowie die Untreue von Unionsmitteln.[3] In all diesen Fällen sind nicht mehr nur wirksame, abschreckende und verhältnismäßige Sanktionen vorgesehen, sondern Art. 7 regelt nunmehr, dass wegen der Delikte in Art. 3 und 4 eine Freiheitsstrafeangedroht werden muss. In Fällen, in denen diese Taten zu erheblichen Schäden oder Vorteilen führen, sind Mindesthöchststrafen von vier Jahren im nationalen Strafrecht vorzusehen. Dabei werden die in Art. 3 Abs. 2 lit. d genannten Betrugshandlungen in Bezug auf die Mehrwertsteuer-Eigenmittel stets als erheblich angesehen. Für die Hinterziehung von Mehrwertsteuerngilt im Übrigen auch die in Art. 7 Abs. 4 vorgesehene Bagatellklausel nicht. Das Handeln als Mitglied einer kriminellen Vereinigung muss als Strafschärfungsgrund in die Strafzumessung einbezogen werden können (Art. 8). Im Ganzen gelten nunmehr also klare Mindeststrafvorgaben, die allerdings für Deutschland nur geringe Bedeutung haben dürften, weil sowohl für den Betrug, als auch für Untreue und Steuerhinterziehung zum Nachteil der Union ohnehin Freiheitsstrafen bis zu fünf Jahren angedroht sind.
[1]
COM (2012) 363 vom 10.7.2012.
[2]
ABlEU Nr. L 198/29 ff. v. 28.7.2017.
[3]
Vgl. hierzu auch RL 2018/1673/EU des Europäischen Rates und des Parlaments vom 23.10.2018 über die strafrechtliche Bekämpfung der Geldwäsche, ABlEU v. 12.11.2018, Nr. L 284/22.
2. Kapitel Europäisierung des Strafrechts› II. Unmittelbare Harmonisierung des Strafrechts durch Normgebung
II. Unmittelbare Harmonisierung des Strafrechts durch Normgebung
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Eine Harmonisierung und Europäisierung des Strafrechts findet zunächst unmittelbar statt. Sie wird bislang nur in geringem Maße unmittelbar durch supranationales Strafrechtbetrieben.[1] Die Europäische Union bedient sich zum Schutz von Unionsrechtsgütern vielmehr des Instruments der Assimilation, um auf diese Weise das nationale Strafrecht in Anwendung zu bringen.[2] In Unionsrechtsakten wird auf das mitgliedstaatliche Strafrecht verwiesen und damit dessen Anwendungsbereich auf Unionsrechtsgüter erweitert.[3] Es findet so eine Vereinnahmung nationaler Strafvorschriften und eine Schaffung von Straftatbeständen mit supranationaler Wirkung statt.[4]
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Deutlich häufiger ist jedoch die Einbeziehung von Rechtsgütern der Europäischen Uniondurch nationale Strafvorschriften, indem deren Rechtsgutsbestimmung entsprechend erweitert oder unmittelbar auf Rechtsakte der Europäischen Union Bezug genommen wird. Insbesondere im Steuerstrafrecht und im Bereich der Korruptionsbekämpfung wurde der Strafrechtsschutz durch die Strafgesetzgebung in den Mitgliedstaaten ausgeweitet. Dies wird für Deutschland besonders an §§ 370 Abs. 6, 378, 379 Abs. 1 AO deutlich, die sich auch auf Ein- und Ausfuhrabgaben beziehen, die von einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union verwaltet werden oder einem Mitgliedstaat der europäischen Freihandelsassoziation oder einem mit dieser assoziierten Staat zustehen.[5] Diese Ausweitungen gelten auch für Taten, die sich auf die Umsatzsteuernoder europäische Verbrauchsteuernbeziehen. Hier wird offenkundig, dass Steuerstrafrecht in vielen Bereichen europäisiertes Strafrecht ist. Gleiches gilt für den Straftatbestand des Subventionsbetruges, der sich nach § 264 Abs. 7 Nr. 2 StGB auch auf Leistungen aus öffentlichen Mitteln nach dem Recht der europäischen Gemeinschaften bezieht.[6]
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Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zu einer solchen Ausweitung der Strafdrohung zum Schutz der Unionsrechtsgüter oder Unionspolitiken ergibt sich aus dem Grundsatz der Unionstreue. Aus Art. 4 Abs. 3 EUV hat der EuGH in der Griechischer-Mais -Entscheidung[7] insb. das Gleichstellungserfordernishergeleitet. Diese Vorgabe zwingt die Mitgliedstaaten dazu, Verletzungen von Unionsrechtsgütern mit ebenso effektiven, wirksamen und abschreckenden Sanktionen (Mindesttrias) zu bedrohen wie Verletzungen nationaler Rechtsgüter. Ferner haben die Mitgliedstaaten die Pflicht, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um die Geltung und Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten.[8] Auch hierzu zwingt die Unionstreue und der Effektivitätsgrundsatz aus Art. 197 AEUV ( effet utile ).[9] Zwar verbleibt den Mitgliedstaaten grundsätzlich die Wahl der Sanktionen; die nationalen Strafverfolgungsbehörden müssen aber bei Verstößen gegen das Unionsrechts mit derselben Sorgfalt vorgehen, die sie bei der Verfolgung von Straftaten gegen nationale Interessen walten lassen.[10]
[1]
Vgl. Sieber/Satzger/v. Heintschel-Heinegg/ Vogel/Brodowski § 5 Rn. 2 ff., § 6 Rn. 1.
[2]
Vgl. Tiedemann NJW 1993, 23 f.; ferner Müller-Gugenberger/ Engelhart § 5 Rn. 102; Wabnitz/Janovsky/ Dannecker / Bülte Kap. 2 Rn. 153.
[3]
Vgl. hierzu Hecker § 7 Rn. 1 ff.
[4]
Vgl. hierzu Wabnitz/Janovsky/ Dannecker / Bülte Kap. 2 Rn. 185.
[5]
Vgl. MK-StGB/ Schmitz / Wulf § 370 AO Rn. 34 ff.; Wabnitz/Janovsky/ Dannecker / Bülte Kap. 2 Rn. 303 ff.; ferner Hübschmann/Hepp/Spitaler/ Bülte § 379 Rn. 67 ff.
[6]
Vgl. hierzu Wabnitz/Janovsky/ Dannecker / Bülte Kap. 2 Rn. 309 ff.; Tiedemann BT § 4 Rn. 126 ff.
[7]
EuGH NJW 1990, 2245 f.
[8]
Hierzu Calliess/Ruffert/ Waldhoff Art. 325 Rn. 7 ff.
[9]
Vgl. Wabnitz/Janovsky/ Dannecker/N. Müller Kap. 18 Rn. 144.
[10]
Vgl. EuGH MwStR 2018, 172, 174; ferner Wabnitz/Janovsky/ Dannecker / Bülte Kap. 2 Rn. 197 ff.
2. Kapitel Europäisierung des Strafrechts› III. Anwendungsvorrang des Unionsrechts
III. Anwendungsvorrang des Unionsrechts
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Über diese unmittelbare Harmonisierung und Europäisierung des Strafrechts durch Einwirkung auf die Strafvorschriften erlangt das Unionsrecht eine Durchgriffswirkung auf das nationale Strafrecht. Grundsätzlich stehen nationales Recht und Unionsrecht sich zwar gleichrangig gegenüber. Soweit jedoch in der konkreten Anwendung ein Widerspruch zwischen mitgliedstaatlichem Recht und Unionsrecht entsteht, gilt der Anwendungsvorrangdes Unionsrechts.[1] Das europäische Recht blockiert im konkreten Einzelfall die Anwendung des nationalen Rechts, wenn sie zu einem Widerspruch mit dem Unionsrecht führen würde. Insofern besteht auch keine Bereichsausnahme für das Strafrecht; sofern dieses in der Vergangenheit als Bastion des mitgliedstaatlichen Rechts gegen das Unionsrecht angesehen worden ist,[2] ist diese Auffassung unzutreffend, zumindest überholt.
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Das Unionsrecht entwickelt jedoch keinen Geltungsvorrangvor dem nationalen Strafrecht. Was dies bedeutet, wird an der Berlusconi -Entscheidung des EuGH[3] deutlich: In Italien waren entgegen ausdrücklicher unionsrechtlicher Vorgaben die Vorschriften über die Strafbarkeit der Bilanzfälschung durch nationales Gesetz aufgehoben worden. Dieses Gesetz verschaffte dem damaligen italienischen Ministerpräsidenten Straffreiheit. Die Generalanwältin gelangte in der Beurteilung der Rechtslage zu dem Ergebnis, dass das Gesetz zur Abschaffung des Straftatbestandes aus unionsrechtlichen Gründen unwirksam sei. Daher habe der nationale Straftatbestand weiterhin Geltung, so dass die Bilanzfälschung nach wie vor strafbar sei. Der EuGH hat dieser Auffassung widersprochen und einen solchen Geltungsvorrang abgelehnt. Zwar sei die Abschaffung des Straftatbestandes unionrechtswidrig; das ändere aber nichts daran, dass das italienische Gesetz, mit dem die Strafvorschrift aufgehoben worden sei, Geltung habe. Daraus folge, dass die Strafvorschrift des mitgliedstaatlichen Rechts nicht mehr existiere und daher eine Sanktionierung der Bilanzfälschung gegen den Grundsatz nullum crimen sine lege(vgl. hierzu auch Rn. 81 ff.) verstoße. Es entsteht lediglich eine Scheinkollisionvon Unionsrecht und nationalem Strafrecht, weil die hier relevante unionsrechtliche Richtlinie nicht unmittelbar gegenüber dem Bürger wirkt.[4]
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