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Darüber hinaus ist die Europäische Union im Bereich des Strafverfahrensrechts berechtigt, Mindestvorschriften für die gegenseitige Anerkennung strafrechtlicher Entscheidungen und Maßnahmen im Rahmen der justiziellen Zusammenarbeitzu setzen.[9] Dies ergibt sich aus Art. 82 Abs. 2 AEUV. Danach sind das Europäische Parlament und der Rat ausdrücklich befugt, im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren Maßnahmen zu erlassen, um die Regeln und Verfahren über die gegenseitige Anerkennung von Urteilen und gerichtlichen Entscheidungen in der Union sicherzustellen, Kompetenzkonflikte zwischen den Mitgliedstaaten zu verhindern und beizulegen sowie die Zusammenarbeit zwischen Justizbehörden im Rahmen der Strafverfolgung des Vollzugs und der Vollstreckung von Entscheidungen zu erleichtern. Dabei betreffen die Vorschriften, die hier erlassen werden sollen, insb. die Zulässigkeit von Beweismitteln, die Rechte des Einzelnen im Strafverfahren und die Rechte der Opfer von Straftaten. Auch hier (Art. 82 Abs. 2 AEUV) ist eine Notbremse geregelt.[10]
[1]
Vgl. Calliess/Ruffert/ Callies s Art. 5 EUV Rn. 19 ff.
[2]
Vgl. hierzu Sieber/Satzger/v. Heintschel-Heinegg/ Vogel / Brodowski § 6 Rn. 1 ff.; bislang hat die EU nur im Bereich des Kartellrechts und des Datenschutzrechts von der Befugnis Gebrauch gemacht eigene Strafvorschriften i.w.S. gemacht, vgl. zu Letzterem Bülte StV 2017, 460 ff.
[3]
Vgl. Sieber/Satzger/v. Heintschel-Heinegg/ Killmann/Schröder § 12 Rn. 15 ff.; Calliess/Ruffert/ Waldhoff Art. 325 AEUV Rn. 1.
[4]
Vgl. nur Hecker § 14 Rn. 43 f.; Calliess/Ruffert/ Waldhoff Art. 325 AEUV Rn. 11.
[5]
Vgl. nur Calliess/Ruffert/ Suhr Art. 83 AEUV Rn. 8; Hecker § 8 Rn. 1 ff.
[6]
Vgl. Calliess/Ruffert/ Suhr Art. 83 AEUV Rn. 9.
[7]
Hecker § 8 Rn. 1 ff.
[8]
Vgl. Calliess/Ruffert/ Suhr Art. 83 AEUV Rn. 31; Hecker § 8 Rn. 56 ff.
[9]
Vgl. Calliess/Ruffert/ Suhr Art. 82 AEUV Rn. 5 ff.; ferner Hecker § 12 Rn. 1 ff.
[10]
Vgl. Calliess/Ruffert/ Suhr Art. 82 AEUV Rn. 50.
2. Kapitel Europäisierung des Strafrechts› I. Einführung› 2. Unionstreue als „Motor der Harmonisierung“
2. Unionstreue als „Motor der Harmonisierung“
11
In vielen Bereichen verpflichtet das Unionsrecht die Mitgliedstaaten zur Ausweitung nationaler Strafvorschriften, um zum einen europäische Interessen und Rechtsgüter der Europäischen Union zu schützen und zum anderen die Durchführung der Unionspolitiken, insb. die Schaffung eines funktionsfähigen europäischen Binnenmarktes abzusichern. Gestützt wird dieser Anspruch der Union auf Umsetzung dieser Ziele durch die Mitgliedstaaten auf den Grundsatz der Unionstreuenach Art. 4 Abs. 3 EUV.[1] Die Unionstreue zwingt die Mitgliedstaaten dazu, grundsätzlich in eigener Initiative zum Schutz der Rechtsgüter und Interessen der Europäischen Union, insb. ihrer finanziellen Interessen, tätig zu werden. Subsidiär kann die Europäische Union in wenigen ausgewählten Bereichen selbst Strafrecht setzen, wenn das nationale Strafrecht der Mitgliedstaaten keinen effektiven und gleichwertigen Schutz zu gewährleisten vermag.
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Eine für das Fiskalstrafrecht besonders wichtige Ausprägung hat dieser Grundsatz in Art. 325 AEUV gefunden. Diese Vorschrift basiert im Wesentlichen auf der grundlegenden Entscheidung des EuGH in Sachen „Griechischer Mais“.[2] Hier hat der EuGH deutlich gemacht, dass die Mitgliedstaaten zum einen verpflichtet sind, die finanziellen Interessen der Europäischen Union mit wirksamen, abschreckendenund angemessenenMaßnahmen zu schützen und dabei, soweit notwendig, auch auf kriminalstrafrechtliche Maßnahmen zurückzugreifen (Mindesttrias).[3] Zum anderen haben die Mitgliedstaaten die Interessen der Europäischen Union in mindestens genauso effektiver Weise zu schützen wie die eigenen Interessen (Gleichstellungserfordernis).[4]
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Darüber hinaus verpflichtet Art. 325 Abs. 3 AEUV die Mitgliedstaaten dazu, ihre Tätigkeiten zum Schutz der finanziellen Interessen der Union vor Betrügereien zu koordinieren.[5] In Art. 325 Abs. 4 AEUV wird dem Europäischen Parlament und dem Rat die bereits erwähnte Kompetenz zugesprochen, zur Gewährleistung eines effektiven gleichwertigen Schutzes der finanziellen Interessen der Europäischen Unionin den Mitgliedstaaten supranationales Strafrecht zu setzen. Auf diese Kompetenz kann zurückgegriffen werden, wenn die Mitgliedstaaten ihrer Verpflichtung zur Unionstreue durch effektive Rechtsetzung nicht oder nicht hinreichend nachkommen.[6] Dabei zwingt die Harmonisierung die Mitgliedstaaten nicht nur im Bereich der Betrugsbekämpfung zur Strafrechtsetzung, sondern auch in allen anderen Bereichen, in denen die Unionspolitiken und Interessen des gemeinsamen Marktes, die Gegenstand des Unionsrechts sind, ohne strafrechtliche Sanktionen nicht durchgesetzt werden können. Zu nennen ist hier beispielsweise der Schutz der Unionsmarke durch nationales Markenstrafrecht, der Schutz des Verbrauchers vor unsicheren Lebensmitteln durch nationales Lebensmittelstrafrecht oder die Vorgaben zum Schutz der finanziellen Interessen der EU.[7]
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Um sich nicht von außen Strafrecht aufoktroyieren zu lassen, muss der mitgliedstaatliche Gesetzgeber daher handeln. Aufgrund dieser Mechanismen, die die nationale Strafgesetzgebung antreiben, ist die Bezeichnung der Pflicht zur Unionstreue als Motor der Harmonisierung zutreffend. Die Wahrung der Unionstreue und damit der Funktionsfähigkeit des Harmonisierungsmotors wird durch die Sanktionsmöglichkeit des Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 258 ff. AEUV abgesichert. Mit diesem Mittel können die Mitgliedstaaten in begrenztem Rahmen zur aktiven Beteiligung an der Europäisierung des Strafrechts angehalten werden. Zu bedenken ist jedoch bei jeder Ausübung unionsrechtlicher Normgebungskompetenzen stets die Grenze durch den Subsidiaritätsgrundsatz[8] (Art. 5 Abs. 3 EUV). Die Union darf von ihren Kompetenzen nur soweit Gebrauch machen, wie dies zur Durchsetzung der Harmonisierung unerlässlich ist.
[1]
Zu diesem Prinzip vgl. Calliess/Ruffert/ Calliess/ Kahl /Puttler Art. 4 EUV Rn. 55 ff., Hecker § 7 Rn. 2 ff.
[2]
EuGH NJW 1990, 2245 f. m. Anm. Tiedemann NJW 1990, 2226 ff.; vgl. auch EuGH Slg. 1990, 2911 ff.; eingehend hierzu Dannecker SchwZStR 2003, 280, 283 ff.
[3]
Vgl. Dannecker SchwZStR 2003, 280, 286 f. m.w.N.; Hecker § 7 Rn. 24 ff.
[4]
Vgl. auch EuGH MwStR 2018, 172, 174, Rn. 30 f. m.w.N. – M.A.S. & M.B.; Calliess/Ruffert/ Waldhoff Art. 325 AEUV Rn. 6; Hecker § 7 Rn. 24 ff.
[5]
Vgl. Calliess/Ruffert/ Waldhoff Art. 325 AEUV Rn. 14.
[6]
Vgl. Hecker § 4 Rn. 81 f.
[7]
Vgl. Wabnitz/Janovsky/ Dannecker / Bülte Kap. 2 Rn. 156 ff.; Calliess/Ruffert/ Calliess Art. 5 EUV Rn. 19 ff.
[8]
Vgl. Wabnitz/Janovsky/ Dannecker / Bülte Kap. 2 Rn. 194.
2. Kapitel Europäisierung des Strafrechts› I. Einführung› 3. Die Richtlinie zum Schutz der finanziellen Interessen der EU als neue Stufe der Harmonisierung des harmonisierten Fiskalstrafrechts
3. Die Richtlinie zum Schutz der finanziellen Interessen der EU als neue Stufe der Harmonisierung des harmonisierten Fiskalstrafrechts
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