»Sie wissen, ich schätze Sie über alles«, höfelte Frau Semlock der Sekretärin zu, »aber ich habe ein blödes Gefühl im Bauch und ich weiß, ich bin aufgedreht, aber ich bitte Sie, mir zu helfen.«
»Das klingt doch schon viel besser«, antwortete die Sekretärin aus ihrem gepflegten Dress hinter einem schwarzen Schreibtisch. Sie machte ihr Mousepad frei, klickte sich in ein internes Laufwerk und rief die Personaldaten der Mitarbeiter auf.
»Da haben wir ihn ja. Torsten Tengler. Ganz schönes Foto von ihm«, lächelte sie in den Bildschirm hinein. »Hier steht’s. Angehörige: Frau Tamara Tengler, gleiche Wohnanschrift, erreichbar unter …«
»Ich danke Ihnen sehr.« Kerstin Semlock nahm den Zettel mit der abgeschriebenen Handynummer von Tamara Tengler und eilte zurück in ihr Dienstzimmer. Sie wählte die Nummer und hoffte, nach jedem neuen Klingelton endlich ein erlösendes »Tengler« oder »Ja, bitte« zu hören. Ersteres geschah.
»Tengler« hörte sie eine entspannte, helle Stimme sagen.
»Hier ist Frau Semlock, eine Kollegin Ihres Mannes.«
»Hallo, Frau Semlock. Ich weiß, mein Mann hat Sie oft erwähnt. Was führt Sie in die Leitung?«
»Ich vermisse Ihren Mann, Frau Tengler. Damit Sie mich nicht falsch verstehen, er ist heute nicht zum Dienst erschienen. Ich wollte mich nur erkundigen, ob er vielleicht krank ist?«
»Oh, das überrascht mich«, antwortete Tamara Tengler.
»Wie kann es Sie überraschen? Waren Sie beide heute Morgen nicht zusammen?«
»Nein, ich bin am Wochenende zu meiner Freundin nach Berlin gefahren. Mein Mann blieb in Rostock. Ich bin noch in Berlin und habe heute einen Termin auf der Museumsinsel.«
»Darf ich fragen, was Sie beruflich machen?«
»Sicher, ich konzipiere Heizungs- und Lüftungssysteme für Großbauten.«
»Toll, das hört sich interessant an. Meinen Respekt. Das hört sich auch familienfreundlich an, wahrscheinlich keine Dienste?«
»Genau, im Grunde haben Sie recht. Wir würden nur im Havariefall und wenn es wirklich pressiert mal einen außerordentlichen Lokaltermin wahrnehmen. So zum Beispiel heute.«
»Ah ja, ok, aber zurück zu Ihrem Mann. Hatte er am Wochenende etwas Besonderes vor?« »Er wollte paddeln. Er wollte mit seinem Kajak aufs Wasser. Das macht er manchmal auch allein, wenn ich nicht da bin. Dieses Wochenende hatte sich angeboten. Wir haben zuletzt Freitagabend miteinander telefoniert, aber nicht darüber gesprochen, wohin er fahren wollte.« »Wie kann ich ihn erreichen, Frau Tengler? Übers Handy habe ich es schon versucht.«
»Tja, ich weiß da auch nicht weiter. Er ist eigentlich nie krank oder so, höchstens mal ein Männerschnupfen, aber deswegen würde er nicht zu Hause bleiben. Fragen Sie doch mal Dr. Brandenburg. Vielleicht hatten die beiden Kontakt. Neulich waren sie zusammen im Kino. Kann ja sein, dass er etwas weiß. Also, ich mache mir da erstmal keine großen Sorgen. Das wird sich bestimmt aufklären. Ich rufe nachher mal seinen Sohn an, vielleicht erfahre ich etwas, ok?«
»Alles klar, ich danke Ihnen.«
Kapitel 7
Die Rechtsmedizin
1958 löste sich in Rostock die Gerichtliche Medizin aus der Pathologie und wurde zu einer eigenen Struktureinheit, zu einem Institut, zunächst in der Gertrudenstraße. 1964 zog das Institut in die Friedrich-Engels-Straße, heute St.-Georg-Straße, in das ehemalige Internat der Arbeiterund Bauern-Fakultät. Dort sitzt sie noch heute, seit der Wende umbenannt in Rechtsmedizin. Die alte graue Villa wirkt zwischen dem Studentenwohnheim und dem roten, wuchtigen Backsteingebäude, welches zu DDR-Zeiten die SED-Bezirksleitung beherbergte, danach das Gesundheitsamt und jetzt die Stadtkämmerei, wie ein Implantat. Das Hofgebäude bleibt verdeckt, ein hässlicher Betonbau, der Ende der 70er-Jahre in den Hof des Studentenwohnheimes gesetzt wurde, um Nachrichtentechnik aufzunehmen – man ahnt, um welche Art von Nachrichten und um welche Art von Technik es dort ging. Wer nun noch wusste, dass sich die Chemisch-Toxikologische Abteilung des Institutes in der Rungestraße neben der alten U-Haft befand, für den bestätigte sich endgültig durch diese baulichen Nachbarschaften ein Generalverdacht gegenüber allen, die in der Gerichtsmedizin arbeiteten. Mit dieser Corona aus Vorbehalten hatte sich der junge Dr. Karsten Brandenburg auch auseinanderzusetzen, als er 1980 nach dem Medizinstudium dort die Weiterbildung zum Facharzt begann. Der Kern des Faches hielt ihn jedoch gefangen und lies ihn nicht mehr los. Der Muff des alten Gemäuers erzeugte immer irgendwie beides: Abwehr und Anziehung. Letzteres überwog fast 40 Jahre. Seine Kollegen nannten ihn BRB: Das Autokennzeichen für die Stadt und den Landkreis Brandenburg an der Havel, seine Heimatstadt und kurioser Weise auch sein Nachname. BRB hatte sich in seinen drehbaren Dienstsessel eingepasst und merkte ein ums andere Mal, dass sein Körper so nach und nach, mit dem Älterwerden die Ideallinien verließ und der Sesselform immer ähnlicher wurde. Der Sessel war so bequem, dass der Körper keinerlei Energie aufwenden musste, um sich darin zu halten. Das wiederum ließ den Zeiger der Waage zwar langsam aber dafür beständig weiter nach rechts auslenken. Einhalt gebot lediglich ein Tag, der mit Obduktionen ausgefüllt war, denn da hieß es im Stehen präparieren und diktieren, den ganzen Tag, und zuweilen nähen und schwer heben. Einsätze zu einem Tatort, ein Konsil in der Klinik oder eine Vorlesung waren weitere willkommene Abwechslungen, die jedoch für die Rekonstruktion der Ideallinie nicht ausreichten. In der Freizeit etwas Sport, aber nicht zu viel und so entwickelte sich bei ungestörtem Appetit und gelegentlich einem Fläschchen Bier der beschriebene Zustand.
Ein Tag im Institut nahm seinen Lauf. Am Nachmittag war ein Ethikkonsil auf der neurologischen Intensivstation im Zentrum für Nervenheilkunde Rostock-Gehlsdorf anberaumt worden. Es ging um eine 83-jährige, korpulente Frau, die mit einem Schlaganfall aufgenommen wurde. Auf Station trafen außerdem ein Internist und ein Chirurg ein, dazu noch der Krankenhausseelsorger und eine Juristin von der Stabsstelle Recht. Die Patientin hatte eine Patientenverfügung unterschrieben, die von den Angehörigen vorgelegt worden war. Es ging darum, ob der in der Verfügung formulierte Zustand eingetreten sei. Die Stationsärztin stellte die Patientin vor. Gegenwärtiger Status, bisherige Therapie und weitere Möglichkeiten sowie die Prognose wurden in der Runde diskutiert. Auf der Rückfahrt von Gehlsdorf zur St.-Georg-Straße meldete sich Kommissarin Semlock, die BRB im Auto über seine Freisprechanlage empfing. Sie durchbrach mit ihrem Anruf die bassigen Drums im Intro von Amy Winehouse’ YOU KNOW I’M NO GOOD.
»Oh, Du bist gerade unterwegs«, tönte es plötzlich im harten Kontrast zu der Musik, von der sich BRB eigentlich zum Institut begleiten lassen wollte.
»Hört man das?«
»Irgendwie schon. Es sei denn, Dein PC hat eben den Blinker gesetzt und vom vierten in den dritten Gang geschaltet.« Beide lachten herzlich.
»Was gibt es denn Frau Kommissär?«
»Kommissär? Das habe ich doch heute schon einmal gehört.« Kerstin Semlock dachte kurz nach. »Ach ja, der Kollberg hat mich so angesprochen und einen Reim draufgesetzt. Ich glaube, der dreht langsam frei. Mannomann…«
»Nun lass mal«, fiel ihr BRB ins Wort. »Ab und an ein bisschen lustig muss doch erlaubt sein und ist nicht gleich psychopathologisch oder psychiatrisch. Da, wo ich gerade herkomme ist das schon anders.«
»Klär mich auf.«
»Ethikkonsil in Gehlsdorf.«
»Ah, ich verstehe. Der Doktor gibt sich mal wieder klinisch. Gut fürs Ego, oder?«
»Was kann ich denn Gutes für dich tun?«, fragte BRB nach.
»Für mich fällt mir da überhaupt nichts ein, aber vielleicht für deinen Freund Tengler.«
Читать дальше