»Entschuldigung, dürfte ich mal bitte …«, fragte Dr. Brandenburg mit einer üblichen Floskel.
»Herr Doktor, warum so eilig?«
Dr. Brandenburg schaute ihn überrascht und fragend an. »Bitte? Kennen wir uns?«
»Wir haben schon einige Zeit miteinander verbracht«, entgegnete die Person.
Dr. Brandenburg wich verwundert zurück. Ein großer, schlanker, kräftiger Mann. Kurzes, gepflegtes Haar, feste Gesichtszüge.
Ein kleines Mädchen rief ihm zu »Papa komm jetzt!«
»Ich stehe auf dem Schlauch, wie man so sagt. Helfen Sie mir mal. Ich weiß nicht, wo ich Sie hinstecken soll.« Der Mann genoss die Unsicherheit von Dr. Brandenburg.
»Vielleicht hilft es Ihnen, wenn ich sage, dass ich mir gerade eine Spiegelreflexkamera aussuche?«
»Oh«, rief Dr. Brandenburg als Ausdruck wirklicher Überraschung. »Amtsgericht Rostock vor ein paar Tagen.«
Sein Gegenüber grinste zu breit, um es noch sympathisch zu finden.
»Ich war dort wohl etwas zu heftig in meiner Reaktion«, versuchte Dr. Brandenburg abzumildern.
»Nein, nein. Eigentlich ganz entsprechend meiner Erwartung.«
»Ich verstehe nicht. Ich sage Ihnen auf den Kopf zu, dass Sie kein Journalist sind, das auch noch ziemlich barsch, entferne mich nahezu grußlos, eher mit einer Gestik der Verachtung und Sie haben das erwartet?«
»Sicher. Ich weiß selbst, dass ich kein Journalist bin und natürlich werde ich mir nicht eine teure Spiegelreflex kaufen, nur weil unser Zusammentreffen mit Ihrer Empfehlung dazu so endete.«
Die komplizierte, aber wohl gesetzte Wortwahl ließ Dr. Brandenburg aufhorchen.
»Dann frage ich Sie jetzt direkt, wer Sie sind«, gab er mit wieder gewonnener Sicherheit zurück.
»Dann überlegen Sie mal. Es ist ein paar Jahre her und das letzte Wort ist noch nicht gesprochen.«
Mit diesen fast wie eine Drohung wirkenden und beinahe scharf gesprochenen Worten folgte der Mann dem ungeduldigen Zerren seiner kleinen Tochter, drehte sich weg, hob die Hand wie zum Gruß und ging, ohne dabei zurückzusehen, als wolle er die Szene neulich im Amtsgericht spiegeln.
BRB blieb verblüfft und irritiert zurück.
Seine Gedanken kreisten. Er sah sein inneres Eventregister durch. Die ihn umgebenden Kunden, ihr Kommen und Gehen, ihr Suchen nach einem Mitarbeiter des Marktes, ihr Fragen und Erzählen nahm er nicht mehr war.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Er reagierte nicht gleich.
»Suchen Sie etwas Bestimmtes?«
»Ach, Entschuldigung, ich war in Gedanken. Ich suche einen Speicherstick.«
»Sie stehen davor.«
»Ja, manchmal sieht man den Wald …«
»… vor lauter Bäumen nicht«, ergänzte der Mitarbeiter.
»Sie sagen es … vielen Dank.«
BRB suchte sich sein Speichermedium in der gewünschten Größe. Dann glitten seine Gedanken wieder zu der Begegnung, die ihn weiter beschäftigte. Er begab sich kopfschüttelnd langsam zur Kasse, ohne aus dem Rätselmodus herauszukommen.
So wie sich der Dienstag ohne das erlösende, weil harmlos erklärende Auftauchen von Torte Tengler dem Ende neigte, so schwand auch die Hoffnung, dass sein Verschwinden ein gutes Ende nehmen könnte. Die ersten Tage! Bekam ein Vorgang in dieser Zeit nicht eine klare Richtung, drohte eine lange Wegstrecke. Das waren uralte Erfahrungen, die sich wieder und wieder bestätigten. Der nächste Tag nahm die schwindende Hoffnung und die damit verbundene Depression auf und legte beide wie einen bleiernen Mantel über die Ermittler, über die Familie von Torte und seine Freunde. Es wurde schwer, die gleiche Routine zu fahren, die jeder derartige Fall erforderte.
Das Boot der Wasserschutzpolizei legte in Wismar ab und folgte der ausgetonnten Fahrrinne. Es passierte die als Naturschutzgebiet gesperrte Insel Walfisch westlich und nahm dann einen Kurs von 300° entlang der Ansteuerung Wismar, um irgendwann Richtung Timmendorf beizudrehen. Das Polizeiboot folgte in respektablem Abstand weiter der steinigen Küste von Poel und später der Vogelschutzinsel Langenwerder bei Gollwitz, um in das Salzhaff einzufahren. Langenwerder, von einem mehrere hundert Meter breiten Flachwasserbereich umgeben, der tiefer gehenden Booten keine Annäherung erlaubt, weshalb Polizeiobermeister Heiner Brand sein Boot vorsichtig zwischen dieser flachen Zone und Kieler Ort in Richtung Salzhaff steuerte. Auf Höhe der alten Dalben, die backbord in Sicht kamen, stoppte er die Maschine und ließ sich treiben. Nach backbord öffnete sich die Kroy. Eine Flachwasserbucht, die mittig um zwei Meter, überwiegend jedoch nur um einen Meter Tiefe hat. Voraus lag der bewaldete Teil der Halbinsel Wustrow. Steuerbord sah er auf die Halbinsel Boiensdorfer Werder. Somit hatte er das vorgegebene Suchgebiet erreicht. Er fühlte sich recht allein mit seinem Fernglas. Der angekündigte Hubschrauber ließ auf sich warten. Auf Kieler Ort stand jemand. Das verwunderte ihn, da das Naturschutzgebiet niemand betreten durfte. Es schien die Kontur einer kleineren Person zu sein. Er nahm das Fernglas und in dem Moment breitete das Gesehene seine Schwingen aus und erhob sich zu einem majestätischen Flug landeinwärts. Ein Seeadler. Er musste lachen. Der erste Eindruck war eine Täuschung. Ein Fahrgastschiff näherte sich aus Rerik kommend. Auf den Dalben rasteten Kormorane mit gespreizten Flügeln. Die alte und nicht mehr genutzte Holzkonstruktion aus Pfählen zum Festmachen von Schiffen wirkte dunkel, unheimlich, verlassen und verloren. Ein Lost Place. Der warme Wind briste leicht auf und kam aus Südost. Auf den großen Wasserflächen baute sich schnell Wellengang auf. Ablandiger Wind. Heiner Brand startete die Maschine, steuerte im Standgas vorsichtig die Dalben an und umkreiste sie. Sein Auftrag lautete Suchen und Finden. Von Norden kam das Geräusch eines Hubschraubers näher. Er war viel früher zu hören, als zu sehen. ›Tiefflug‹, dachte Heiner Brand. ›Das muss er sein.‹ Der Heli mit der Aufschrift Polizei war offenbar der Küste von Norden gefolgt und drehte über Kieler Ort, um die Kroy zu überfliegen. Heiner Brand winkte der Besatzung zu und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den alten Festmacher. Nichts Besonderes. Das Fahrgastschiff hatte seine Höhe passiert. Ihm folgte ein helles Motorboot im Kielwasser. Heiner Brand schaute hinüber und schätzte dessen Abstand zum vorausfahrenden Schiff als gefährlich gering ein. Der Bootsführer stand hinter der Windschutzscheibe und wippte offenbar im Rhythmus einer Musik, die nur dünn und undeutlich zu hören war. Im Fernglas war die Kennzeichnung am Bug deutlich zu erkennen, die er sich notierte. Das Polizeiboot nahm langsam Fahrt auf, um weiter in die Bucht zu kommen. Während sich Heiner Brand auf das Fahrwasser voraus konzentrierte, drehte das helle Boot plötzlich über steuerbord ab und hielt auf ihn zu. Die Maschinengeräusche des Polizeibootes waren zu laut, sodass er die Annäherung nicht gleich bemerkte. Irgendein Instinkt brachte Heiner Brand dazu, nach hinten zu sehen. Die Distanz betrug nur noch 50 Meter. Das helle Boot näherte sich mit hoher Geschwindigkeit seinem Heck, um kurz davor einen Haken nach rechts zu schlagen. Die Heckwelle schwappte gegen die Bordwand des Polizeibootes und ließ es schwanken. Als nächstes riss der Bootsführer sein Boot scharf nach links, um vor dem verdutzten Polizisten aufzustoppen. Dieser musste nun, um eine Kollision zu vermeiden, das gleiche tun. Letztlich lagen sich beide Boote gegenüber und dümpelten langsam aufeinander zu.
»Sagen Sie mal, geht’s noch!?«, schrie Heiner Brand zu ihm rüber. »Kommen Sie längsseits! Ihre Papiere bitte!«
Doch der rief zurück: »Sie dürfen hier nicht rein. Auch nicht die Polizei. Das ist verboten!« Brand sah auf einen jungen Mann mittlerer Größe: Schlank, krauses, hellblondes Haar, scheinbares Alter um die dreißig. Er war allein an Bord.
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