Nicole Braun
Endstation Nordstadt
Kriminalroman
Verzockt Kassel 1992. Der spielsüchtige Anwalt Meinhard Petri hat sich total verzockt. Zu Hause rausgeflogen sucht er sich eine heruntergekommene Wohnung im zwielichtigen Teil der Kasseler Nordstadt. Hier regiert Kiezgröße Horst Scharpinsky alias »Sharp«. Der hat Petri eine Menge Geld geliehen und zwingt ihn als Gegenleistung, einer Selbstmordwelle auf den Grund zu gehen, die seltsamerweise nur Sharps Großschuldner dahinrafft. Die Lösung liegt scheinbar auf der Hand: Hier kann nur Scharpinskys Erzrivale Sahid Bahat seine Finger im Spiel haben. Deshalb geht Petri seinen Auftrag eine Spur zu lässig an, doch dann erhält er bedrohliche Botschaften. Der selbsternannte Racheengel »Azrael« bekennt sich zu den Morden. Er schlägt Petri einen Handel vor: sein Wissen über die dreckigen Geschäfte von Scharpinsky gegen das Leben von dessen Schuldnern. Der Serienmörder diktiert die Regeln, und Petri lässt sich auf ein lebensgefährliches Doppelspiel ein.
Nicole Braun, geboren 1973 in Kassel, ist fest verwurzelt in der Region Nordhessen. Welches Setting wäre für ihre neueste Thriller-Reihe also besser geeignet als Kassel zur Zeit der spannenden 1990er. Die studierte Betriebswirtin gab 2014 ihren Job auf und lebt seither vom Schreiben, Lesen und Singen. Außerdem unterrichtet sie Kreatives Schreiben. Gemeinsam mit ihrem Mann und zwei Hunden wohnt sie im Herzen des nordhessischen Berglands. Bei langen Spaziergängen in den Wäldern findet sie Inspiration für immer neue spannende und düstere Geschichten.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Katja Ernst
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Tinvo / photocase.de
ISBN 978-3-8392-6886-5
Für Horst
Teil I Kassel 1992
Der Kerl hatte sich in die sauteure BOSS-Hose gepisst. Wahrscheinlich hatte er es selbst noch nicht bemerkt, weil er damit beschäftigt war, auf dem wackeligen Stuhl die Balance zu halten. Ich fand den Anblick einigermaßen amüsant, doch um ihn genießen zu können, nervte das erbärmliche Flennen des Typs zu sehr.
Das Gejammer erfüllte die leere Fabrikhalle. Um mich von seiner Position aus sehen zu können, musste er die Augen verdrehen. Er konnte den Kopf nicht in meine Richtung beugen, dafür sorgte der Strick, den ich an der Deckenkonstruktion befestigt und ihm um den Hals geknotet hatte.
Während er versuchte, jede falsche Bewegung zu vermeiden, fing er doch tatsächlich an zu verhandeln. Dabei war ich überzeugt gewesen, ich hätte ihm den Ernst der Lage klargemacht. Er schien ihn trotzdem nicht begriffen zu haben, offensichtlich musste ich deutlicher werden. Ich stupste mit dem Fuß an den Stuhl, gerade so fest, dass er ein wenig ins Wanken geriet. Sofort war Ruhe. Na also.
Ich schaute ihm lange ins Gesicht und versuchte, den Kerl darin zu erkennen, der seine Visage in jede Kamera hielt und Sätze sagte wie: »Bei den Entlassungen handelt es sich um notwendige und sozial vertretbare Maßnahmen.« Oder: »Wir stehen für Werte wie Integrität und Loyalität.«
Ob er auch nur eine Lüge bereute, wie er da so stand, flennend und vollgepisst? Auch nur eine Sache ändern würde, falls ich ihn jetzt laufen ließe?
Ich hatte ihn lange genug verfolgt. Einmal in der Woche ging er seinem Hobby nach und belohnte sich für einen harten Arbeitstag. Bevor er abends seinen Töchtern einen Kuss zur guten Nacht gab und ins Ehebett kroch, hatte er sich an mindestens einer minderjährigen Prostituierten vergangen, die nicht viel älter war als seine Töchter. Und am Sonntag saß er mit glänzenden Augen Händchen haltend neben seiner Gattin im Gottesdienst. Ich wusste wohl um den Kummer, den ich Frau und Kindern bescherte, und das ließ mich alles andere als kalt. Sie würden es verstehen, wenn sie erst die Wahrheit über ihn kannten, und außerdem würde ihr Trost siebenstellig sein.
Den Ort hatte ich mit Bedacht ausgesucht. Ich war beinahe ein bisschen stolz auf meine Wahl. Die leere Fabrikhalle, die in direkter Nachbarschaft zur B 83 vor sich hingammelte, bot den idealen Rahmen. Die perfekte Kulisse für den Abgang desselben Mannes, der diese Halle von Arbeitern entvölkert, das Inventar verscherbelt und sich mit der Abwicklung eine goldene Nase verdient hatte. Die Dachkonstruktion war zwar rostig, würde ihn aber sogar dann halten, wenn er strampeln sollte. Die Hände hatte ich mit dicken Stoffstreifen zusammengebunden und diese mit Klebeband festgezurrt, nachdem ich die Kabelbinder entfernt hatte. Die Stoffstreifen sorgten dafür, dass keine nennenswerten Abdrücke zurückblieben, wenn ich die Fesseln entfernte. Später, wenn die Zappelei vorbei wäre.
Ich sah ihn mir ein letztes Mal ganz genau an. Er schien kaum noch Widerstandswillen zu haben. Er hatte seine gesamte Energie mit Jammern und Lamentieren verpulvert und war übersät mit hektisch roten Flecken vom Hyperventilieren. Kein Problem. Die würden bis zur Leichenschau verschwunden sein, und die vollgepisste Hose würde man dem Todeskampf zuschreiben.
Er begann mich zu langweilen. Sein Winseln versank in einer Mischung aus Selbstmitleid und Bettelei.
Genug!
Horst Scharpinsky ließ das Glasauge wie ein Taschenspieler durch die Finger rotieren und zwinkerte mit der leeren Augenhöhle. Das tat er gern, um Eindruck zu schinden, und in der Regel dann, wenn ihm ein armes Würstchen gegenübersaß, das sein Handlanger Sergej zu einer Unterredung unter drei Augen zitiert hatte.
Mich jedoch beeindruckte das, was Scharpinsky tat, kaum noch. Ich hatte das ein paarmal zu oft erlebt.
Er hing lässig in einem überdimensionalen Ledersessel, drehte das Glasauge mit der rechten Hand in der Luft und spielte mit der linken an einer scheinbar tonnenschweren Goldkette, die um seinen Hals baumelte. Hinter ihm hatte sich Sergej aufgebaut und die Arme vor der breiten Brust verschränkt.
Meine Augen wanderten zwischen Scharpinsky und Sergej hin und her. Die Demütigung, den Blick zu senken, wollte ich mir ersparen. Von Sergej am helllichten Tag am Kragen aus der Kanzlei und in den Keller von Scharpinskys Sexshop gezerrt zu werden, war beschämend genug gewesen.
Diejenigen, die eine Wahl hatten, schlichen mit gesenktem Haupt in das Büro von Scharpinsky oder machten einen Riesenbogen darum. Seit mein Schuldenberg bei ihm so hoch geworden war, dass ich ihn in zehn Leben nicht würde abtragen können, gehörte ich nicht mehr zu denen, die es sich aussuchen konnten. Ich hatte jede Chance auf Würde verspielt.
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