Zur größten, zur wesentlichsten Quelle des Trostes wurde für ihn das Kind. Sie war ihm zuerst voller Zurückhaltung ferngeblieben. Wenn sie an einem Tage noch so freundlich war, am nächsten verfiel sie wieder in ihre alte Nichtachtung, hielt sich kalt, fremd in der Entfernung.
Er hatte am ersten Morgen nach der Hochzeit entdeckt, es würde nicht leicht mit dem Kinde gehen. Bei Anbruch der Dämmerung war er plötzlich aufgewacht, als er ein kleines Stimmchen vor der Tür klagen hörte:
»Mutter!«
Er stand auf und machte die Tür auf. Sie stand in ihrem Nachthemd auf der Schwelle, so wie sie aus dem Bett geklettert war, die schwarzen Augen rund und feindselig ihn anstarrend, ihr helles Haar wild umherstehend. Mann und Kind sahen einander an.
»Ich will meine Mutter«, sagte sie mit eifersüchtiger Betonung des »meine«.
»Denn komm«, sagte er freundlich.
»Wo ist meine Mutter?«
»Hier ist sie – komm mit.«
Die Kinderaugen, die den Mann mit dem strubbeligen Haar und Bart anstarrten, veränderten ihren Ausdruck nicht. Die Stimme der Mutter rief sie leise. Mit Zittern betraten die kleinen bloßen Fuße das Zimmer.
»Mutter!«
»Komm, Liebling.«
Rasch kamen die kleinen bloßen Füße näher.
»Ich wunderte mich schon, wo du wärest«, kam die klagende Stimme wieder. Die Mutter streckte die Arme nach ihr aus. Das Kind stand vor dem hohen Bett. Brangwen hob das winzige Mädelchen leicht mit einem »Hoppla!« in die Höhe und nahm dann seinen Platz im Bette wieder ein.
»Mutter!« rief das Kind scharf, als ängstige es sich.
»Was, mein Liebling?«
Anna drängte sich dicht an ihre Mutter und hielt sich eng an ihr fest, wie um nichts von dem Manne zu sehen. Brangwen lag stille und wartete. Ein langes Schweigen trat ein.
Dann sah Anna sich plötzlich nach ihm um, als dächte sie, er wäre fort. Sie sah das Gesicht des Mannes der Decke zugewandt. Voll Widerwillen starrten die schwarzen Augen in ihrem feinen Gesichtchen ihn an, ihre Arme umschlangen die Mutter fest, wie in Angst. Eine Zeitlang rührte er sich nicht, weil er nicht wußte, was er sagen sollte. Sein Gesicht war ruhig und voll sanfter Liebe, seine Augen voll eines milden Lichts. Er sah sie fast ohne sich zu bewegen mit lächelnden Augen an.
»Bist du grade erst wach geworden?« sagte er.
»Geh weg!« erwiderte sie und schnellte den Kopf ein klein wenig vor, fast wie eine Schlange.
»Ne,« antwortete er, »ich gehe nicht. Du kannst ja weggehen.«
»Geh weg!« kam wieder das scharfe, kleine Gebot.
»Is ja Platz genug für dich!« sagte er.
»Du kannst deinen Vater doch nicht aus seinem eigenen Bett jagen, mein Vögelchen«, sagte ihre Mutter scherzend.
Das Kind glühte ihn an, unglücklich in seiner Ohnmacht.
»Is ja Platz genug für dich da«, sagte er wieder. »Das Bett is groß genug!«
Ohne etwas zu erwidern, glühte sie ihn weiter an, dann plötzlich wandte sie sich und umschlang ihre Mutter. Sie wollte das nicht dulden.
Den Tag über fragte sie ihre Mutter mehrere Male:
»Wann gehen wir wieder nach Hause, Mutter?«
»Wir sind ja zu Hause, Liebling. Wir leben jetzt hier. Dies ist unser Haus, wir leben hier bei deinem Vater.«
Das Kind mußte das gezwungen zugeben. Aber sie verharrte in ihrer Stimmung gegen den Mann. Als die Nacht hereinbrach, fragte sie:
»Wo schläfst du nachher, Mutter?«
»Ich schlafe jetzt bei deinem Vater.«
Und als Brangwen hereintrat, fragte sie ihn wild:
»Warum schläfst du bei meiner Mutter? Meine Mutter schläft bei mir«, fügte sie mit zitternder Stimme hinzu.
»Komm du man auch und schlaf bei uns«, redete er ihr zu. »Mutter!« rief sie laut und wandte sich wie hilfeflehend nach ihr um.
»Aber ich muß doch einen Mann haben, Liebling. Alle Frauen müssen einen Mann haben.«
»Und du möchtest doch auch gern einen Vater und eine Mutter haben, nich?« sagte Brangwen.
Anna glühte ihn an. Sie schien nachzudenken.
»Nein!« rief sie schließlich wild, »nein, ich will gar keinen haben!« Und langsam zuckte es über ihr Gesicht, und sie begann bitterlich zu weinen. Er stand neben ihr und beobachtete sie, und sie tat ihm leid. Aber er konnte es nicht ändern.
Und als sie das einsah, wurde sie ruhiger. Er war sehr nett gegen sie, sprach mit ihr, nahm sie mit, um sich alles Lebende auf dem Hofe anzusehen, er brachte ihr die ersten Küken in seiner Mütze, nahm sie mit zum Eiersuchen und ließ sie dem Pferde Brotrinden vorwerfen. Sie ging gern mit ihm und nahm alles an, was er ihr bot, aber sie blieb immer noch gleichgültig.
Die Art, wie sie, voller Eifersucht, sich stets ängstlich für ihre Mutter bedacht zeigte, hatte etwas Merkwürdiges, kaum zu Fassendes. Wenn Brangwen mit seiner Frau nach Nottingham fuhr, lief Anna lange Zeit ganz vergnügt und achtlos umher. Kam dann aber der Nachmittag heran, gab es nur noch ein fortwährendes Geschrei. »Ich will meine Mutter wiederhaben, ich will meine Mutter wiederhaben –« und ein bitteres, leidenschaftliches Schluchzen, das die gutherzige Tilly auch ins Heulen brachte. Des Kindes Furcht war, seine Mutter wäre fort, fort.
Und doch schien Anna in der Regel kalt, unwillig gegen ihre Mutter und überwachte sie scharf. Dann hieß es:
»Ich mag nicht, daß du das tust, Mutter,« oder: »Das mußt du nicht sagen, Mutter!« Sie stellte Brangwen und alle anderen Bewohner des Marschenhofes vor eine schwierige Aufgabe. Für gewöhnlich war sie jedoch ein beständig leicht auf dem Hofe umherflitzendes kleines Ding und tauchte nur dann und wann einmal auf, um sich zu vergewissern, ob die Mutter auch noch da wäre. Glücklich schien sie nie zu sein, aber scharf, rasch, nachdenklich, voller Einbildungskraft und wechselnder Laune. Tilly behauptete, sie wäre verhext. Aber das machte nichts, solange sie nur nicht weinte. In Annas Weinen lag etwas Herzzerbrechendes, ihre kindliche Angst schien so furchtbar und so endlos, als handelte es sich um etwas außerhalb aller Zeit.
Alle Lebewesen des Hofes machte sie sich zu Spielgefährten, sprach mit ihnen, erzählte ihnen Geschichten, die sie von ihrer Mutter gehört hatte, gab ihnen gute Ratschläge oder tadelte sie. Brangwen fand sie so an der Gittertür, die nach der Weide und dem Ententeiche führte. Sie guckte durch die Stäbe und rief den stattlichen weißen Gänsen, die in einer bogenförmigen Reihe dastanden, zu:
»Ihr müßt die Leute nicht anschreien, wenn sie uns besuchen wollen! Das dürft ihr nicht!«
Die schwerfällig wackelnden Tiere sahen ruhig nach dem eifrigen kleinen Gesicht, das sich mit seinem strubbeligen hellen Haar durch die Stäbe steckte, sie hoben die Köpfe und schwankten weiter, indem sie mit dem lauten »Kank-ank-ank« der Gänse Einspruch dagegen erhoben und ihre schiffartig geformten, schönen weißen Körper in einer Reihe an der Tür vorbeischoben.
»Ihr seid unartig, ihr seid unartig!« schrie Anna, mit Tränen ärgerlicher Enttäuschung in den Augen. Und sie stampfte mit ihren Filzschuhen auf.
»Warum, was tun sie dir denn?« sagte Brangwen.
»Sie wollen mich nicht hereinlassen«, sagte sie und wandte ihm ihr blitzendes kleines Gesicht zu.
»Tjo, das tun sie doch woll! Wenn du Lust hast, geh man hinein«, und er machte ihr die Tür mit einem Stoß auf.
Sie stand unentschlossen da und sah auf die Gruppe der bläulich-weißen Gänse, die wie Bildwerke in dem grauen, kalten Tageslicht dastanden.
»Geh zu«, sagte er.
Tapfer machte sie ein paar Schritte vorwärts. Wie im Krampf schreckte ihr kleiner Körper dann zusammen bei dem plötzlichen, spöttischen »Kank-ank-ank« der Gänse. Verwirrung überfiel sie. Die Gänse trollten mit erhobenen Köpfen unter dem niedrigen, grauen Himmel weiter.
»Sie wissen nicht, wer du bist«, sagte Brangwen. »Du mußt ihnen mal sagen, wie du heißt.«
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