Während auch er, wie seine französischen Kollegen Auguste Comte und Émile Durkheim, sorgfältige soziologische Untersuchungen für unabdingbar hielt, konnten diese in seinen Augen dennoch nicht restlos objektiv sein – ihr Gegenstand war schließlich das soziale Handeln, d. h. die Art und Weise, in der Menschen in der Gesellschaft interagierten. Dieses Handeln war notwendigerweise subjektiv und musste folglich vor dem Hintergrund der subjektiven Werte, die die Menschen mit ihren Aktionen verbanden, interpretiert werden. Dieses Verstehen bildete einen echten Gegenpol zu einer objektiven Untersuchung der Gesellschaft: Während Durkheim die Gesamtstruktur der Gesellschaft und die »organische« Natur ihrer einzelnen Teile studierte, wandte sich Weber der Untersuchung der individuellen Erfahrung zu.
Weber war stark von Marx beeinflusst, vor allem von dem Gedanken, dass der moderne Kapitalismus den Menschen entfremdete. Allerdings kritisierte er Marx’ Materialismus, seine Betonung der Ökonomie und die Unausweichlichkeit der proletarischen Revolution. Weber griff daher Ideen von Marx und Durkheim auf und entwickelte eine eigene soziologische Analyse, die die Auswirkungen dessen untersuchte, was er als durchdringendstes Merkmal der Moderne erkannte: die Rationalisierung.
»[… eines Tages könnte] die Welt mit nichts als jenen Rädchen, also mit lauter Menschen angefüllt sein …, die an einem kleinen Pöstchen kleben und nach einem etwas größeren Pöstchen streben. «
Max Weber
In seinem bekanntesten Werk Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904/05) beschreibt Max Weber die Entwicklung der westlichen Gesellschaft von einer von Stammesbräuchen oder religiösen Pflichten bestimmten hin zu einer zunehmend säkularisierten Organisation, die ökonomischen Gewinn zu erzielen trachtet. Fortschritte in Technik und Wissenschaft hatten die Industrialisierung ermöglicht; sie gingen mit einem Kapitalismus einher, der rein rationale Entscheidungen auf Basis einer Effizienz- und Kosten-Nutzen-Analyse verlangte. Dieser Kapitalismus brachte zahlreiche materielle Vorzüge mit sich, aber auch viele gesellschaftliche Nachteile. Die Rationalisierung verdrängte traditionelle kulturelle und spirituelle Werte und bewirkte – indem die ungreifbare, mystische Seite des Lebens durch kalte Kalkulationen ersetzt wurde – das, was Weber die »Entzauberung der Welt« nannte.
Der Film Moderne Zeiten von 1936 zeigt Charlie Chaplin als Fließbandarbeiter und Objekt der entmenschlichenden Auswirkungen von Modernität und Rationalisierung.
»Es ist das Schicksal unserer Zeit, mit der ihr eigenen … vor allem: Entzauberung der Welt, dass gerade die letzten und sublimsten Werte zurückgetreten sind … «
Max Weber
Dabei erkannte Weber sehr wohl die positiven Veränderungen aufgrund wachsender Kenntnisse und Bildung sowie den Wohlstand als Resultat logischer Entscheidungen (anstelle von Diktaten kirchlicher Autoritäten). Doch gleichzeitig führte die Rationalisierung in sämtlichen Bereichen der Verwaltung zu einem Anwachsen der Bürokratie – ein Aspekt, der ihm in Preußen mit seiner militaristisch-effizienten Tradition besonders deutlich vor Augen trat.
Bürokratie, so lautete Webers Credo, war in einer modernen Industriegesellschaft ebenso unvermeidlich wie notwendig. Ihre Effektivität verhalf der Gesellschaft zu Wohlstand. Das hieß auch: Ihre Ausmaße und ihre Macht schienen unaufhaltsam zu wachsen. Wo ein Schwinden der Religion dazu geführt hatte, dass Menschen sich von irrationalen gesellschaftlichen Normen befreiten, legte die bürokratische Struktur ihnen nun neue Formen der Kontrolle auf und drohte, den sich aus den Zwängen religiöser Dogmatik eben erst befreiten Individualismus erneut zu ersticken. Viele fühlten sich deshalb in den strikten Fesseln der Bürokratie gefangen wie in einem »eisernen Käfig« der Rationalisierung. Außerdem tendieren Bürokratien zu hierarchischen und unpersönlichen Organisationsformen, die mit standardisierten Abläufen jeglichen Individualismus außer Kraft setzen.
Weber befasste sich mit den Auswirkungen auf die individuellen »Zahnräder im Getriebe«. Aus seiner Sicht schuf der Kapitalismus, der ein technologisches Utopia mit dem Individuum im Herzen versprochen hatte, eine durch Arbeit und Geld geprägte Gesellschaft, die von einer kompromisslosen Bürokratie überwacht wurde. Eine nach strikten Regeln funktionierende Gesellschaft tendiert dazu, das Individuum einzuschränken, und hat den entmenschlichenden Effekt, dass die Individuen sich einem zwar logischen, aber gottlosen System ausgeliefert fühlen. Zudem wirken sich Macht und Autorität einer rationalen Bürokratie auf die Beziehungen der Individuen untereinander, auf ihr soziales Handeln aus. Dieses erfolgt nicht mehr, wie einst, auf der Basis von Familien- und Gemeinschaftsbindungen, sondern ist einzig auf Effizienz und bestimmte Ziele ausgerichtet.
Das Kanzleramt in Berlin,Sitz der deutschen Regierung. Die Beamten, die hier arbeiten, sind Teil der Bürokratie, die die Politik der Regierung umsetzen soll.
»Ein voll entwickelter bürokratischer Mechanismus verhält sich zu diesen genau wie eine Maschine zu den nicht mechanischen Arten der Gütererzeugung. «
Max Weber
Da das vorrangige Ziel der Rationalisierung in der möglichst effizienten Erledigung von Aufgaben besteht, werden die Wünsche der Individuen dem Ziel der Organisation untergeordnet und führen so zum Verlust von Autonomie. Mit zunehmender Spezialisierung der Arbeit wächst auch die gegenseitige Abhängigkeit der Individuen; zugleich fühlen sie ihren Wert in der Gesellschaft mehr durch andere bestimmt als durch eigene Fähigkeiten, eigenes Geschick. Der Wunsch nach Weiterbildung und Selbstentwicklung macht dem obsessiven Ehrgeiz nach einem besseren Job, mehr Geld und einem höheren Status Platz – und Produktivität wird weitaus höher bewertet als Kreativität.
Weber sieht in dieser Entzauberung den Preis, den die moderne Gesellschaft für die durch bürokratische Rationalisierung erlangten materiellen Errungenschaften zahlt. Die gesellschaftlichen Veränderungen sind beträchtlich; sie betreffen nicht nur unsere Moral, sondern auch unseren psychologischen und kulturellen Charakter. Die Aushöhlung spiritueller Werte bedeutet, dass gesellschaftliches Handeln nach Kosten-Nutzen-Kalkulationen erfolgt und zunehmend eine Sache der Administration statt der Moral und gesellschaftlichen Orientierung wird.
Soziales Handeln und Schicht
Weber verzweifelte zwar bisweilen an der seelenlosen Seite der modernen Gesellschaft, war jedoch nicht restlos pessimistisch. Bürokratie war nicht leicht zu zerstören. Da die Gesellschaft sie erschuf, konnte sie jedoch auch von ihr verändert werden. Wo Marx voraussagte, dass Ausbeutung und Entfremdung des Proletariats notgedrungen zur kommunistischen Revolution führen musste, sah Weber im Kommunismus eine noch größere Bürokratiegefahr als im Kapitalismus. Ihm zufolge sollte die Bürokratie in einer liberalen Gesellschaft nur so viel Macht haben, wie ihre Mitglieder ihr zugestanden.
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