1 ...8 9 10 12 13 14 ...26 Als »soziales Faktum« (damit bezeichnet Durkheim einen vom Willen des Individuums unabhängigen Tatbestand), das bei der Entwicklung von der mechanischen hin zur organischen Solidarität am Werk ist, identifiziert Durkheim das Wachstum und die Konzentration der Bevölkerung: Der Wettlauf um Ressourcen wird immer intensiver. Gleichzeitig steigen mit zunehmender Bevölkerungsdichte die Möglichkeiten für soziale Interaktionen und setzen bei Bedarf eine Arbeitsteilung zwecks Effizienzsteigerung in Gang.
In der modernen Gesellschaft stellt die gegenseitige Anhängigkeit der Individuen die Basis für den Zusammenhalt dar. Aber Durkheim stellt auch fest, dass mit der Arbeitsteilung infolge rapider Industrialisierung soziale Probleme entstehen. Gerade weil die organische Solidarität auf den Unterschieden zwischen den Menschen beruht, verlagert sie sich von der Gemeinschaft hin zum Individuum. Sie verdrängt dabei das kollektive Bewusstsein der von allen geteilten Werte und somit den inneren Zusammenhalt der Gesellschaft. Ohne diese Verhaltensnormen aber wird die Gesellschaft instabil, die Individuen orientierungslos. Organische Solidarität kann nur wirksam werden, wenn eine Gesellschaft ein Mindestmaß an mechanischer Solidarität beibehält und ihre Mitglieder ein gemeinschaftliches Selbstverständnis teilen.
Die Arbeitsteilung fleißiger Insektenerzeugt im Bienenstock nicht nur ein funktionierendes Ganzes. Die Bienen halten auch eine symbiotische Beziehung zu ihrer Umgebung aufrecht.
Die rasante Industrialisierung, so Durkheim, erzwang eine ebenso rasante Arbeitsteilung, sodass sich die soziale Interaktion in der modernen Gesellschaft nicht in ausreichendem Maße ausbilden konnte, um den Niedergang des kollektiven Bewusstseins auszugleichen. Die Individuen verloren zunehmend den sozialen Zusammenhalt, insbesondere die vormals durch die mechanische Solidarität bereitgestellte moralische Orientierung (z. B. durch die Religion). Für dieses Defizit prägte Durkheim den Begriff der »Anomie« und beschrieb damit den Verlust kollektiver Maßstäbe und Werte und die daraus folgende Schwächung der individuellen Moral. In einer soziologischen Studie über Grundtypen des Selbstmords zeigte er die große Bedeutung der Anomie bei der Verzweiflung auf, die Menschen zur Selbsttötung treiben konnte. Seine Untersuchungsergebnisse zeigten, dass in Gemeinschaften mit starken kollektiven Werten – wie seinerzeit die Katholiken – die Selbstmordrate niedriger war als anderswo. Durkheim fand darin den Wert der Solidarität für die Gesundheit einer Gesellschaft bestätigt.
»… die Gesellschaft [ist] nicht bloß eine Summe von Individuen, sondern das durch ihre Verbindung gebildete System stellt eine spezifische Realität dar, die einen eigenen Charakter hat. «
Émile Durkheim
Eine akademische Disziplin
Durkheim entwickelte seine Ideen auf der Basis stringenter Untersuchungen und empirischer Ergebnisse, z. B. aus Fallstudien und Statistiken. Sein Hauptverdienst ist es, die Soziologie als akademische Disziplin begründet zu haben. Sein positivistischer Ansatz indes trug ihm manche Skepsis ein. Marx etwa (ebenso wie spätere Marxisten) lehnte die Idee ab, die komplexe und unvorhersehbare menschliche Gesellschaft könne durch naturwissenschaftliche Methoden erfasst werden. Gleichwohl verhalf Durkheims Gesellschaftsanalyse dem Funktionalismus innerhalb der Soziologie zu großer Bedeutung und beeinflusste v. a. Talcott Parsons und Robert K. Merton. Seine Erläuterungen zur Solidarität boten eine Alternative zu den Theorien von Marx und Weber. Und obwohl Durkheims Positivismus keinen Anklang mehr findet, spielen von ihm eingeführte Konzepte wie die der Anomie und des kollektiven Bewusstseins bis heute (unter dem Deckmantel der »Kultur«) in der Soziologie eine Rolle. 
Émile Durkheim
Durkheim wuchs in der lothringischen Stadt Épinal in einer französischen Rabbinerfamilie auf. Er brach mit der religiösen Familientradition und studierte an der École Normale Supérieure in Paris. Nach seinem Abschluss 1882 in Philosophie interessierte er sich für Gesellschaftswissenschaften, nachdem er Auguste Comte und Herbert Spencer gelesen hatte. Zum Studium der Soziologie ging er nach Deutschland und lehrte ab 1887 in Bordeaux am ersten Fachbereich für Soziologie einer französischen Universität. 1902 ging er an die Pariser Sorbonne und wurde vier Jahre später dort Professor. Mit dem Ansteigen rechtsgerichteter und nationalistischer Politik während des Ersten Weltkriegs sah er sich mehr und mehr marginalisiert. 1917 starb Durkheim an einem Schlaganfall, nachdem sein Sohn André ein Jahr zuvor an der Front gefallen war.
Hauptwerke
1893 Über soziale Arbeitsteilung
1895 Die Regeln der soziologischen Methode
1897 Der Selbstmord
DER EISERNE KÄFIG DES RATIONALISMUS
MAX WEBER (1864–1920)
IM KONTEXT
SCHWERPUNKT
Rationale Modernität
WICHTIGE DATEN
1845In seinen Thesen über Feuerbach beschreibt Karl Marx erstmals den Gedanken des historischen Materialismus, nach dem die Ökonomie (und nicht Ideen) die Geschichte der Menschheit vorantreibt.
1903Georg Simmel untersucht in seinem Werk Die Großstädte und das Geistesleben Auswirkungen des modernen Stadtlebens auf das Individuum.
1937In The Structure of Social Action stellt Talcott Parsons seine Aktionstheorie vor, in der er die gegensätzlichen (subjektiven und objektiven) Ansätze von Weber und Durkheim zu integrieren sucht.
1956In seinem Buch Die amerikanische Elite beschreibt C. Wright Mills die Entwicklung einer militärisch-industriell herrschenden Schicht als Resultat der Rationalisierung.
Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein wurde das Wachstum der Wirtschaft in den deutschen Staaten eher durch Handel als durch Produktion erzielt. Doch als sich auch hier, wie schon in England und Frankreich, der Schritt hin zu groß angelegten Fertigungsindustrien vollzog, waren die Veränderungen rasant und dramatisch – vor allem in Preußen, wo die Kombination aus natürlichen Rohstoffvorkommen und militaristischer Tradition in kürzester Zeit einer effizienten Industriegesellschaft zum Aufstieg verhalf.
Deutschland hatte die Auswirkungen der Moderne bis dahin kaum zu spüren bekommen. Das bedeutete auch, dass soziologische Betrachtungen bisher kaum angestellt worden waren. Karl Marx war zwar Deutscher, seine soziologischen und ökonomischen Ideen fußten jedoch auf Erfahrungen in Industriegesellschaften andernorts. Erst zum Ende des Jahrhunderts wandten sich Wissenschaftler der neu entstehenden Gesellschaft in Deutschland zu. Unter ihnen war Max Weber, der wohl einflussreichste Mitbegründer der Soziologie.
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