1 ...7 8 9 11 12 13 ...26 Ferdinand Tönnies
Ferdinand Tönnies kam in Schleswig-Holstein zur Welt. Nach Philologie- und Geschichtsstudien in Straßburg, Jena, Bonn und Leipzig promovierte er 1877 in Tübingen. Anschließend widmete er sich zunehmend politischen und sozialen Fragen. 1881 wurde er Privatgelehrter an der Universität in Kiel; aus politischen Gründen erhielt er erst 1913 eine Professur dort. Eine Erbschaft ermöglichte ihm bald, sich auf eigene Forschungen zu konzentrieren. 1909 wurde er Mitbegründer der deutschen Gesellschaft für Soziologie. Seine Sympathien für die Sozialdemokratie und öffentliche Stellungnahme gegen den Nationalsozialismus führten 1931, drei Jahre vor seinem Tod, zu seiner Entlassung aus dem Universitätsdienst.
Hauptwerke
1887 Gemeinschaft und Gesellschaft
1922 Kritik der öffentlichen Meinung
1931 Einführung in die Soziologie
WIE DER MENSCHLICHE KÖRPER BESTEHT AUCH DIE GESELLSCHAFT AUS UNTEREINANDER VERBUNDENEN TEILEN, BEDÜRFNISSEN UND FUNKTIONEN
ÉMILE DURKHEIM (1858–1917)
IM KONTEXT
SCHWERPUNKT
Funktionalismus
WICHTIGE DATEN
1830–1842Auguste Comte befürwortet in Die Soziologie . Die positive Philosophie im Auszug eine wissenschaftliche Untersuchung der Gesellschaft.
1874–1877Herbert Spencer spricht im ersten Band seines Werks Die Prinzipien der Soziologie von der Gesellschaft als »sozialem Organismus«.
1937In The Structure of Social Action greift Talcott Parsons in seiner Aktionstheorie den funktionalistischen Ansatz auf.
1949Robert K. Merton nimmt in Social Theory and Social Structure Durkheims Anatomiegedanken auf, um gesellschaftliche Störungen zu untersuchen.
1976Anthony Giddens bietet in Interpretative Soziologie eine Alternative zum strukturalen Funktionalismus.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Soziologie nur schrittweise als eigenständige sozialwissenschaftliche Disziplin neben der Philosophie anerkannt. Um als neues Forschungsfeld zu gelten, musste sie wissenschaftliche Maßstäbe einführen. Unter den Philosophiestudenten, die sich zu dem neuen Wissensgebiet hingezogen fühlten, war auch Émile Durkheim. Ihm zufolge hatte die Soziologie nicht nur das Zeug zu einer großen Theorie, sondern auch zu einer Methode, die dazu beitragen konnte, die Entwicklung der modernen Gesellschaft besser zu verstehen. Durkheim versuchte keineswegs als Erster, das Fach als anerkannte Wissenschaft zu etablieren; in seine Ideen flossen Werke früherer Denker mit ein. Gleichwohl gilt er, zusammen mit Karl Marx und Max Weber, als »Gründervater« der neuen wissenschaftlichen Disziplin.
Erfindung eines wissenschaftlichen Modells
Auguste Comte legte mit seiner Theorie, das Studium der menschlichen Gesellschaft stehe an der Spitze der Naturwissenschaften, das Fundament. Und da die Gesellschaft aus einem Kollektiv menschlicher Tiere besteht, lieferte die Biologie das Modell für die Sozialwissenschaften. Doch nicht jeder stimmte dem zu: Karl Marx etwa legte seinen soziologischen Ideen die neu entwickelte Ökonomie zugrunde. Und dann führte Charles Darwin mit seiner Theorie von der Entstehung der Arten zu einem radikalen Umdenken – vor allem in Großbritannien: Hier fand sein Modell der organischen Evolution in vielen Wissenschaftsdisziplinen Anwendung.
Einer, der sich von Darwin inspirieren ließ, war Herbert Spencer, ein Philosoph und Biologe, der die Entwicklung der modernen Gesellschaft mit der eines Organismus verglich: In beiden dienten verschiedene Teile verschiedenen Funktionen. Spencer führte die Idee eines »organischen« Modells für die Sozialwissenschaften ein.
Durkheim übernahm diesen funktionalen Gedanken sowie das Verständnis, nach dem die Gesellschaft mehr war als die Summe ihrer Individuen. Zudem half ihm Auguste Comtes »Positivismus« bei der Formulierung einer wissenschaftlichen Methode, die das Funktionieren der modernen Gesellschaft beleuchten sollte.
Durkheim konzentrierte sich auf die Gesellschaft insgesamt und ihre Institutionen (und weniger auf die Motivationen und Handlungsweisen ihrer Mitglieder). Vor allem interessierten ihn die Dinge, die die Gesellschaft zusammen- und ihre Ordnung aufrechterhielten. Ihm zufolge bestand die Grundlage soziologischer Studien aus »sozialen Fakten«, also »äußerlichen Tatbeständen des einzelnen Individuums«, die sich empirisch feststellen ließen.
»Ist es unsere Pflicht, ein vollendetes und ganzes Wesen werden zu wollen, ein Ganzes, das sich selbst genügt, oder im Gegenteil dazu nur Teil eines Ganzen zu sein, Organ eines Organismus? «
Émile Durkheim
In Religionen –insbesondere in so alten wie dem Judentum – sah Durkheim grundlegende gesellschaftliche Institutionen, die den Menschen ein starkes kollektives Bewusstsein verliehen.
Wie andere Pioniere der Soziologie versuchte auch Durkheim, die Kräfte, die die »Moderne« ausmachten, zu verstehen und zu erklären. Doch während Marx ihre Ursachen im Kapitalismus und Weber in der Rationalisierung sahen, verband Durkheim die Entwicklung der modernen Gesellschaft mit der Industrialisierung und insbesondere mit der durch sie in Gang gesetzten Arbeitsteilung.
Ein funktionaler Organismus
Was die moderne von der traditionellen Gesellschaft unterschied, war nach Durkheim eine völlig andere Art des sozialen Zusammenhalts: Die Industrialisierung brachte eine neue Form von Solidarität hervor. In seiner Dissertation mit dem Titel Über soziale Arbeitsteilung skizzierte er die verschiedenen Arten gesellschaftlicher Solidarität:
In primitiven Gesellschaften (z. B. der Jäger und Sammler) verrichten alle Individuen mehr oder weniger dieselben Arbeiten. Und obwohl jeder autark wirtschaften kann, wird die Gesellschaft durch den gemeinschaftlichen Zweck, gemeinsame Werte und die kollektive Erfahrung zusammengehalten. Die Ähnlichkeit der Individuen macht das aus, was Durkheim das »kollektive Bewusstsein« als Basis für die Solidarität dieser Gesellschaft bezeichnet.
Mit wachsender Komplexität der Gesellschaft entwickeln die Menschen zunehmend spezialisierte Fähigkeiten – und an die Stelle bisheriger Eigenständigkeit tritt gegenseitige Abhängigkeit. So benötigt der Bauer nun den Schmied für die Hufeisen seines Pferdes – und der Schmied den Bauern als Lieferanten seiner Lebensmittel. Die »mechanische« Solidarität traditioneller Gesellschaften wird durch eine, wie Durkheim sie nennt, »organische« Solidarität ersetzt, die auf den ergänzenden Unterschieden (bei gleichzeitig gegenseitiger Abhängigkeit) der Individuen basiert.
Diese Form der Arbeitsteilung erreicht mit der Industrialisierung ihren Höhepunkt: Aus der Gesellschaft wird ein komplexer »Organismus«, in dem die individuellen Elemente spezialisierte, zum Wohl des Ganzen gleichermaßen notwendige Funktionen ausüben. Dieser Gedanke – nach dem die Gesellschaft wie ein biologischer Organismus aus verschiedenen Teilen mit jeweils bestimmten Aufgaben funktioniert – wurde in der Soziologie als Funktionalismus bekannt.
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