C. Wright Mills
Der Kollaps der Autoindustriein Detroit (USA) führte zum ökonomischen Niedergang der Stadt. Viele Arbeiter sahen jedoch nicht den Zusammenhang zwischen ihrer Armut und der Machtelite (darunter auch Gewerkschaftsführer).
Das Fehlen einer solchen soziologischen Denkweise hatte demnach zur Herausbildung der Machtelite beigetragen. In seinem Buch Kritik der soziologischen Denkweise (1959) wendet sich C. Wright Mills daher eingehend der Soziologie und den Sozialwissenschaften zu. Da es dem normalen Menschen schwerfällt, die eigenen Sorgen im Kontext öffentlicher Belange zu sehen, liegt es an den Soziologen, darüber aufzuklären und die notwendigen Kenntnisse und Informationen zu verbreiten.
C. Wright Mills stand der akademischen Soziologie seiner Zeit äußerst kritisch gegenüber, hatte sie sich doch in seinen Augen weit von der Alltagserfahrung entfernt und beschäftigte sich zu viel mit der »großen Theorie«. Erkenntnis sollte aber der Praxis dienen. Mills sah die Soziologen in der moralischen Pflicht, bei der Veränderung der Gesellschaft eine Führungsrolle einzunehmen, und die Intellektuellen sollten endlich ihren Elfenbeinturm verlassen und die Menschen mit dem ausstatten, was für eine Gesellschaftsveränderung und für die Umgestaltung des individuellen Lebens zum Besseren hin notwendig war – indem sie zum öffentlichen Engagement in politischen und sozialen Fragen ermutigten.
Im Kern stellte sein Angriff auf die etablierten Vertreter der Soziologie das Selbstverständnis der Wissenschaft infrage. Zu seiner Zeit waren Sozialwissenschaftler äußerst bedacht darauf, soziale, politische und ökonomische Systeme objektiv zu beschreiben und zu analysieren. Mills aber forderte sie auf, sich damit auseinanderzusetzen, in welcher Weise die Rationalisierung und die gesellschaftliche Kontrolle durch eine Elite die Menschen auch auf individueller Ebene betraf. Die Anwendung der soziologischen Denkweise beinhaltete zudem den Abschied von objektiven Untersuchungen dessen, »was ist«, und die Hinwendung zur Frage, »was sein sollte«. In diesem Kontext befürwortete Mills die Übergabe der Macht an eine intellektuelle Elite.
C. Wright Mills’ Kritik an der herrschenden Soziologie sowie seine Interpretation des veränderten Charakters des Klassenkampfes wurden unter Fachleuten weithin abgelehnt. Gleichzeitig wurden seine Bücher und Aufsätze von einer breiten Öffentlichkeit gelesen und wirkten somit außerhalb des sozialwissenschaftlichen Establishments. Philosophen und politische Aktivisten nach der McCarthy-Ära fühlten sich v. a. von seiner Beschreibung des militärisch-industriellen Komplexes angezogen. Viele seiner Ideen fanden in den sozialen Bewegungen der US-amerikanischen Neuen Linken – ein Begriff, den Mills 1960 in seinem »Brief an die Neue Linke« mit prägte – ihren Widerhall.
Arbeitslosigkeitkann dazu führen, dass Menschen sich selbst die Schuld für ihre Situation geben. Doch eine soziologische Denkweise, so Mills, kann helfen, den größeren Zusammenhang zwischen Ursachen und Auswirkungen zu erkennen.
In den 1960er-Jahren machte der Soziologe Herbert Marcuse die Ansichten der Neuen Linken auch in Deutschland bekannt. Mills’ früher Tod 1962 verhinderte, dass er die Aufnahme seiner Ideen in Europa erleben konnte – etwa unter den neuen sozialistischen Intellektuellen, insbesondere in Frankreich. Michel Foucaults Begriff der Macht z. B. erinnert in vielfacher Hinsicht an C. Wright Mills’ Überlegungen.
Heute wächst angesichts des sogenannten Krieges gegen den Terror und der verheerenden Folgen der Finanzkrise zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Erkenntnis, dass vieles in unserem alltäglichen Leben von größeren gesellschaftlichen und historischen Zusammenhängen bestimmt wird. Peter Dreier, ein US-amerikanischer Berater für Städtebaupolitik, meinte 2012, C. Wright Mills hätte gewiss die Occupy-Wall-Street-Bewegung gegen soziale und ökonomische Ungerechtigkeit geliebt. In dieser Bewegung einfacher Menschen gegen eine Machtelite und deren, wie sie sagen, Kontrolle der Gesellschaft bis in die Privatsphären hinein zeigt sich die soziologische Denkweise in einer Kampagne für soziale Veränderung. 
Charles Wright Mills
Leidenschaftlich unabhängig und kritisch, wie er war, schrieb C. Wright Mills seine ungewöhnlichen Haltungen einer einsamen Kindheit zu, da seine Eltern mehrfach den Wohnort wechselten. Geboren in Waco/Texas, studierte er zunächst an der Texas A&M University, verließ die erstickende Atmosphäre dort aber schon nach einem Jahr, ging nach Austin/Texas und studierte dort Soziologie und anschließend Philosophie. Der talentierte, aber schwierige Mills setzte seine Studien an der University of Wisconsin fort, wo er mit seinen Professoren stritt und sich weigerte, Änderungen an seiner Doktorarbeit vorzunehmen. 1942 wurde er promoviert – da unterrichtete er bereits an der University of Maryland und schrieb zusammen mit Hans Gerth (einem seiner Doktorväter) From Max Weber: Essays in Sociology . 1945 ging er schließlich mithilfe eines Guggenheim-Stipendiums an die Columbia University.
Obwohl er wegen seiner rückhaltlosen Kritik an den Wortführern der Sozialwissenschaften nie zum »Mainstream« gehörte, war das öffentliche Interesse an seinen Thesen beträchtlich. Als er 1962 nach einem weiteren Herzinfarkt starb, endete seine Karriere mit nur 45 Jahren allzu abrupt.
Hauptwerke
1948 The New Men of Power: America’s Labour Leaders
1956 Die amerikanische Elite
1959 Kritik der soziologischen Denkweise
SCHENKE DEN ALLTÄGLICHSTEN VERRICHTUNGEN DIESELBE AUFMERKSAMKEIT WIE SELTENEN EREIGNISSEN
HAROLD GARFINKEL (1917–2011)
IM KONTEXT
SCHWERPUNKT
Ethnomethodologie
WICHTIGE DATEN
1895Émile Durkheim befürwortet in seiner Schrift Die Regeln der soziologischen Methode eine strikt naturwissenschaftliche Methode für die Sozialwissenschaften.
1921/22Max Webers methodologischer Individualismus wird in seinem posthum veröffentlichten Werk Wirtschaft und Gesellschaft erläutert.
1937Talcott Parsons formuliert in The Structure of Social Action eine kohärente Gesellschaftstheorie.
1967Harold Garfinkel veröffentlicht seine Studies in Ethnomethodology .
1976Anthony Giddens baut in seinem Buch Interpretative Soziologie Ideen aus Garfinkels Ethnomethodologie in seine Darstellung der Soziologie mit ein.
In den 1930er-Jahren startete der US-Soziologe Talcott Parsons ein Projekt, in dem er die verschiedenen Strömungen innerhalb der Soziologie in einer einzigen, kohärenten Theorie zusammenführen wollte. Sein Buch The Structure of Social Action (1937) vereint Ideen von Max Weber, Émile Durkheim und anderen und stellt den Versuch einer universalen Methodologie der Soziologie dar.
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