Einer seiner zahlreichen Anhänger wurde sein Student Harold Garfinkel. Dieser interessierte sich indes weniger für die »große Theorie« seines Meisters als vielmehr für dessen Idee, die Wurzeln der Gesellschaftsordnung (statt ihre Veränderung) zu untersuchen, und dabei auch für seine Forschungsmethoden.
Das Funktionieren der Gesellschaft
Bei der Analyse der Grundlagen der gesellschaftlichen Ordnung hatte Parsons eine methodische Herangehensweise »von unten nach oben«, statt umgekehrt, vorgeschlagen: Untersucht werden sollten also die Mikrobeziehungen und -interaktionen (und weniger die Strukturen und Institutionen).
Diese Vorgehensweise stellte die üblichen soziologischen Methoden auf den Kopf: Bis dahin dachte man, das Verhalten der Menschen lasse sich vorhersagen, indem man die zugrundeliegenden gesellschaftlichen »Regeln« ausfindig machte.
Garfinkel nahm die Idee auf und entwickelte daraus eine Alternative zur herkömmlichen Methode der Soziologie, die er fortan »Ethnomethodologie« nannte: Die einer sozialen Ordnung zugrundeliegenden Regeln entstehen aus der Art und Weise, in der sich die Menschen in verschiedenen Situationen verhalten. Durch die Beobachtung des Alltagsverhaltens erlangen wir daher Einsichten in die Mechanismen der sozialen Ordnung.
Weithin bekannt wurde Garfinkels Methode des »Krisenexperiments«. Darin deckte er allgemein erwartete, doch nur selten wahrgenommene soziale Normen auf. So bat er z. B. seine Studenten, ihre Eltern formell mit »Herr X« und «Frau Y« anzusprechen – dies erzeugte oftmals Verzweiflung oder Zorn, da hiermit die Grundlagen der sozialen Ordnung erschüttert wurden.
»Verfahrenstechnisch ziehe ich es vor, bei vertrauten Szenen zu beginnen und zu fragen, wie Störungen ausgelöst werden können. «
Harold Garfinkel
Garfinkel wies mit seiner Ethnomethodologie zudem auf einen Zirkelschluss in der herkömmlichen Soziologie hin: Sozialforscher rechtfertigten ihre Theorien mit Belegen aus bestimmten Experimenten und benutzten gleichzeitig diese Theorien, um ihre Beispiele zu erläutern. Stattdessen sollten sie unabhängig einzelne soziale Interaktionen untersuchen – und nicht nach allgemeinen Mustern oder Theorien suchen. Als Beispiel nannte Garfinkel etwas, das wir alle kennen: das Schlangestehen. Jede soziale Situation kann, so Garfinkel, »als Akt der Selbstorganisation [ihrer Teilnehmer] hinsichtlich ihres allgemeinverständlichen Charakters seines Auftretens entweder als Darstellung oder als Ausdruck einer sozialen Ordnung verstanden werden«.
Garfinkel veröffentlichte seine Ethnomethodologie 1967 – in einer Zeit also, in der alternative Ideen populär wurden – und er gewann, trotz seines nicht immer leicht verständlichen Darstellungsstils, zahlreiche Anhänger. Heute sind seine Ideen auch innerhalb der Soziologie weitgehend akzeptiert – vielleicht nicht so sehr als Alternative zur soziologischen Methodologie, aber doch als Herangehensweise, die zusätzliche Perspektiven bei der Betrachtung der sozialen Ordnung eröffnet. 
Eine ordentliche Schlangeist eine kollektiv ausgehandelte, von den Mitgliedern geschaffene Organisationsform, die auf unausgesprochenen Regeln sozialer Interaktion im öffentlichen Raum beruht.
Harold Garfinkel
Harold Garfinkel wurde in Newark/New Jersey (USA) geboren, studierte dort Wirtschaft und Buchhaltung und ging später an die University of North Carolina. Zu dieser Zeit begann er zu schreiben; eine seiner Kurzgeschichten (»Colour Trouble«) wurde in die Anthologie The Best Short Stories, 1941 aufgenommen.
Nach dem Armeedienst in einer nicht kämpfenden Einheit während des Zweiten Weltkriegs studierte er bei Talcott Parsons an der Harvard University und promovierte dort. Später lehrte er in Princeton, an der Ohio State University und schließlich, ab 1954, an der University of California. Garfinkel emeritierte 1987, lehrte aber weiterhin und starb 2011.
Hauptwerke
1967 Studies in Ethnomethodology
2002 Ethnomethodology’s Program
2008 Toward a Sociological Theory of Information
WO MACHT HERRSCHT, GIBT ES AUCH WIDERSTAND
MICHEL FOUCAULT (1926–1984)
IM KONTEXT
SCHWERPUNKT
Macht/Widerstand
WICHTIGE DATEN
1848Marx und Engels beschreiben in Das kommunistische Manifest die Unterdrückung des Proletariats durch die Bourgeoisie.
1883Friedrich Nietzsche führt in seinem Werk Also sprach Zarathustra den Begriff vom »Willen zur Macht« ein.
1997Judith Butler entwickelt in Hass spricht. Zur Politik des Performativen Foucaults Gedanken vom »Macht-Wissen« mit Blick auf Zensur und Hassrede weiter.
2000In Empire: die neue Weltordnung beschreiben der italienische Soziologe Antonio Negri und sein amerikanischer Kollege Michael Hardt die Entwicklung einer »totalen« imperialistischen Macht, gegen die sich nur durch Negation Widerstand leisten lässt.
Die Macht zur Aufrechterhaltung oder Veränderung der gesellschaftlichen Ordnung wird üblicherweise mit politischen oder ökonomischen Begriffen beschrieben. Bis in die 1960er-Jahre beherrschten zwei Theorien das Verständnis von Macht: als Macht des Staates oder der Regierung über die Bürger oder, marxistisch betrachtet, als Machtkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Beide Theorien untersuchten Macht auf der Makroebene – und ignorierten damit entweder die Machtausübung auf den »unteren« Ebenen gesellschaftlicher Beziehungen oder sahen sie als eine Konsequenz der gesellschaftlichen, »vorrangigen« Machtstruktur an.
Mit Blick auf die liberalen Gesellschaften des Westens konstatierte Michel Foucault hier eine unzulässige Vereinfachung. Macht, so Foucault, wird nicht nur durch den Staat oder durch Kapitalisten ausgeübt – sie zeigt sich auf jeder Ebene der Gesellschaft, ob unter Individuen, in Gruppen und Organisationen oder in der Gesellschaft insgesamt: »Macht ist überall und kommt von überall her.« Desgleichen widersprach er der Ansicht, Macht lasse sich wie eine Waffe besitzen und handhaben. Macht, so Foucault, ist vielmehr die Fähigkeit, sie auszuüben – sie entsteht erst, wenn entsprechend gehandelt wird, ist also etwas, das anderen angetan wird: eine Handlung, die das Handeln anderer beeinflusst.
Anstatt Macht als eine »Sache« zu betrachten, sieht Foucault in ihr ein »Verhältnis« und erklärt die Natur der Macht, indem er Machtbeziehungen auf allen Ebenen der modernen Gesellschaft untersucht. Macht existiert zwischen einem Menschen und dem Staat, in dem er lebt. Andere Formen der Macht bestehen zwischen ihm und seinem Arbeitgeber, seinen Kindern, der Organisation, zu der er gehört, usw. Foucault erkannte, dass Macht eine wesentliche Gestaltungskraft sozialer Ordnung darstellt, und beschrieb, wie sich die Machtbeziehungen seit dem Mittelalter bis heute verändert hatten. Als »souveräne« Ausübung von Macht bezeichnete er die Methoden, die Autoritäten im Feudalismus dazu benutzten, um ihre Untertanen zum Gehorsam zu zwingen – z. B. Folter und Hinrichtungen. Seit der Aufklärung wurden Zwang und Gewalt in Europa jedoch als unmenschlich und, wichtiger noch, als ineffektive Art der Machtausübung angesehen.
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