Geschlechtsidentitätist nach Butler nicht ein Teil des Wesens einer Person, sondern ein Produkt des Handelns und Verhaltens. Es ist die Performanz (das wiederholte Ausagieren) dieser Handlungen und Verhaltensweisen – in Kombination mit den Tabus in einer Gesellschaft –, die das erzeugt, was als männlich oder weiblich wahrgenommen wird.
Kontroverse und Veränderung
Butlers Ausweitung des Themas wurde seit den 1990er-Jahren zum Meilenstein auf dem Weg zur sogenannten Queer-Theorie. Mit ihren Ideen zeigt sie die gesellschaftliche Bedingtheit unserer Wahrnehmung von Sexualität und Geschlecht. Ihren Theorien liegt das Foucaultsche Verständnis von Macht und ihrer vielschichtigen gesellschaftlichen Ausübung zugrunde. Und nicht allein unsere Geschlechtsidentität wird durch wiederholte und dauerhafte Performanz bestimmter Verhaltensweisen geformt – auch unsere politischen und gesellschaftlichen Perspektiven. In diesem Sinne, so Butler, lassen sich auch andere Aspekte unseres Lebens verändern, wenn wir uns bewusst normenkonträr verhalten.
»›Drag‹ ist in dem Maße subversiv, als es die Nachahmungsstruktur reflektiert, mit der … das Geschlecht produziert wird und den Anspruch der Heterosexualität, Natur zu sein, infrage stellt. «
Judith Butler
Priscilla – Königin der Wüsteist ein Kultfilm von 1994 über zwei »Drag Queens« und einen Transsexuellen. Manche sahen darin die Reproduktion von Stereotypen, andere ein Plädoyer für LSBT-Fragen (Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender).
Butlers Ideen erfuhren erhebliche Kritik – nicht zuletzt von feministischer Seite. Man warf ihr vor, sie unterstelle all denen, die die sexuellen Normen der Gesellschaft erfüllten und nachahmten, mangelnde Freiwilligkeit. Und wie vielen postmodernen Theoretikern warf man auch ihr vor, ihr in sich geschlossenes Theoriegebäude verberge im Grunde nur ein paar simple Ideen. Insgesamt findet sie jedoch mehr Anhänger als Gegner – und das soziologische Forschungsfeld zu Geschlecht und Sexualität hat durch ihre Thesen entscheidende Öffnungen erfahren. Ob zufällig zeitgleich oder als Resultat ihrer Arbeit zeigen westliche Länder heute eine weitgehend liberalisierte Haltung zu verschiedenen Ausdrucksformen von Sexualität – bis dahin, dass gleichgeschlechtliche Paare und LSBT-Themen allgemein akzeptiert sind und mancherorts kaum noch Kontroversen auslösen. Dort aber, wo kulturelle Moralvorstellungen weiterhin restriktiv sind und Regime andere als heterosexuelle Lebensformen grimmig verfolgen, sind die Auswirkungen nicht konformen Sexualverhaltens umso größer und demonstrieren unverkennbar subversiven Charakter. 
Judith Butler
Judith Butler gehört seit den 1990er-Jahren zu den einflussreichsten Stimmen im Bereich feministischer und LSBT-Themen und ist eine prominente Aktivistin gegen Krieg und Rassismus. Sie stammt aus einem russisch-ungarisch-jüdischen Elternhaus, studierte an der Yale University (USA) und promovierte dort 1984. Nach Lehrtätigkeit an diversen Universitäten ging sie 1993 an die University of California in Berkeley, wo sie 1998 Professorin für Vergleichende Literaturwissenschaft und Rhetorik wurde. Sie sitzt im Vorstand der Internationalen Kommission für die Menschenrechte von Schwulen und Lesben und erhielt 2012 in Frankfurt/M. den Theodor-W.-Adorno-Preis. Butler lebt in Kalifornien, zusammen mit ihrer Partnerin Wendy Brown.
Hauptwerke
1990 Das Unbehagen der Geschlechter
1993 Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts
2004 Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen
1830ER- UND 1840ER-JAHRE
Harriett Martineau betont die ungerechte Behandlung von Frauen,der Arbeiterklasse und der Schwarzen in Großbritannien und in den USA.
1848
Karl Marx und Friedrich Engels rufen in Das kommunistische Manifest zu einer sozialistischen Revolutionauf.
1906
Max Weber sagt: Ethnische Gruppen unterscheiden sich weniger durch biologische Unterschiede als vielmehr durch gesellschaftlich geprägte Weltanschauungen.
1948
Die Vollversammlung der Vereinten Nationen verkündet die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte.
1972
Richard Sennett und Jonathan Cobb untersuchen in The Hidden Injuries of Class die negativen Auswirkungen des Klassenbewusstseins.
1845
Friedrich Engels beschreibt die Unterdrückung und Ausbeutungder Arbeiter in seinem Werk Die Lage der arbeitenden Klasse in England .
1903
W.E.B. Du Bois beschreibt in Die Seelen der Schwarzen die gesellschaftlich konstruierten rassischen Vorurteilegegen Afro-Amerikaner.
1920
Max Weber skizziert sein gesellschaftliches Drei-Schichten-System,basierend auf Wohlstand, gesellschaftlichem Status und politischer Macht.
1964
Das US-amerikanische Bürgerrechtsgesetz (Civil Rights Act) verbietet die Diskriminierungaufgrund der Rasse, Hautfarbe, Religion, nationalen Herkunft oder des Geschlechts.
1978
Elijah Anderson beginnt in A Place on the Corner: A Study of Black Street Corner Men seine Untersuchung zur Stigmatisierung der schwarzen Bevölkerungund des Zusammenhangs mit dem Getto.
1979
In Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft erläutert Pierre Bourdieu den Begriff »Habitus«,die Zugehörigkeit zu einer Gesellschaftsgruppe.
1987
Paul Gilroy sagt in There Ain’t no Black in the Union Jack: Der Gedanke einer fixierten nationalen Identität, Ethnizität oder Kultur fördert den Rassismusund sollte fallengelassen werden.
1990
Sylvia Walby identifiziert in Theorizing Patriarchy ein System aus patriarchalen Gesellschaftsstrukturenund -systemen, durch die Frauen ausgebeutet werden.
1978
Edward Said prangert in Orientalismus die stereotype Sicht auf den Ostenan und sagt, sie herrsche in der westlichen Welt noch immer vor.
1979
Peter Townsend propagiert in Poverty in the United Kingdom die Definition von Armutals relativen statt absolutenBegriff.
1984
In Feminist Theory: From Margin to Center legt bell hooks dar, dass die Formen der Unterdrückungmiteinander zusammenhängen.
1987
R.W. Connell sagt in Gender and Power: Die Männlichkeit ist ein gesellschaftliches Konstrukt,das die patriarchale Gesellschaft stützt.
2009
R. Wilkinson und K. Pickett zeigen, dass nicht Wohlstand,sondern soziale Gerechtigkeitetwas bewegen kann.
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