Schettler schließt seinen Schreibtisch ab. Darin bewahrt er seine Pistole auf. Es ist nicht erlaubt. Eigentlich hätte er sie in den Stahlschrank einschließen müssen. Was soll’s? denkt er, nimmt seine Tasche und will gerade seine Mütze aufsetzen, als das Telefon der Feierabendstimmung aufdringlich Einhalt gebietet.
Schettler schaut zum Telefon, schaut zur Tür und dann nochmals zum Telefon. Dann entschließt er sich mit einem Seufzer für das Telefon.
„Polizeiwache Weilersberg, Hauptmeister Schettler“ meldet er sich und hört, was die Stimme am anderen Ende der Leitung ihm zu sagen, ihm mitzuteilen hat.
„Sind Sie sicher?“ fragt er aufgeregt und macht sich einige Notizen auf seinem Block, den er schon fein säuberlich für den kommenden Morgen parat gelegt hat.
„So eine verdammte Scheiße!“ entfährt es Schettler lautstark. „Fünf Minuten früher und ich hätte meine Ruhe gehabt.“ Doch dann findet er sich mit der Situation ab und wählt die Nummer seiner vorgesetzten Dienststelle in Trier. Schettler weiß: Es ist sinnlos, irgendeine Polizeiinspektion in seinem Zuständigkeitsbereich zu benachrichtigen. Soviel weiß er. Wenn eine Leiche in seinem Distrikt aufgefunden wird und zudem auch noch ein Fremdverschulden nicht ausgeschlossen werden kann, dann gibt es nur eines. Die Mordkommission in Trier verständigen. Damit kann er keinen Fehler begehen, damit liegt er immer richtig.
„Spürmann, was ist denn da bei Ihnen los? Erst ein Toter durch eine Lebensmittelvergiftung und jetzt noch ein Toter im Stausee Talbrück. Aber davon wissen Sie ja noch nichts! Aber, Sie sind doch da oben in der Gegend. Es steht noch nicht fest, ob es ein Suizid ist oder ob Fremdverschulden vorliegt. Übernehmen Sie den Fall. Vielleicht spielt er ja in Ihre Ermittlungen hinein. Wenn nicht, schicke ich Ihnen noch heute Abend jemand vorbei, der sich um die Sache kümmert. Sie melden sich auf jeden Fall im Laufe des Abends bei mir. Ist das klar?“
Ja, Chef, das ist klar. Doch ich muss mir doch erst selbst mal ein Bild machen. Wenn der Tote in meine, ich meine in unsere Ermittlungen hineinspielt, dann wird es morgen hier in Idar-Oberstein richtig rundgehen. Aber ich sehe bislang keinen Zusammenhang. Ich melde mich.“
„Wie weit sind Sie denn nun mit Ihren Ermittlungen? Die Presse sitzt mir im Nacken und Staatsanwalt Rödel nervt bereits und will Erfolge, Sie kennen ihn ja. Verdammt, die will ich in absehbarer Zeit aber auch sehen. Es kann doch nicht wahr sein, dass es bei der ganzen Ermittlungsarbeit keinerlei Anhaltspunkte, geschweige denn Beweise gibt!“
Willibald Wittenstein wirkte außerordentlich ungeduldig. Es gab zwar noch keinen Grund dafür, aber er verlor sich in Vorwürfe, wie er es eigentlich immer tat. Und wie immer ließ ich ihn gewähren und hielt den Hörer ein gutes Stück von meinem Tinnitus gequälten Ohr entfernt. Doch wenn Wittenstein tobte, das wussten wir alle, war bald wieder Ruhe im Karton. Diese kleine Schwäche gönnten wir ihm alle, denn er kam schnell hinter seine eigene Luft, wie man auf dem Lande sagt. Will heißen, beim Reden verausgabte sich Wittenstein meist so sehr, dass er sich keine Zeit zum Luft holen einräumte. Den Rest besorgte seine Allergie, deren Ursache einfach nicht gefunden werden konnte. Die letzten Worte seines Satzes verebbten so immer mehr in einem knirschenden See des Schweigens, gefolgt von hektischen Atemzügen, die ihm die verausgabte Kraft langsam wieder zurückgaben.
Aber Wittenstein war schon in Ordnung. In seiner Position –er war immerhin der Leiter aller Kriminalinspektionen zusammen und somit Chef der Kriminaldirektion, wie sich seine Funktion in der Hierarchie genau bezeichnete- hatte oftmals schon massivem Druck von außen Stand halten müssen.
Da war die Staatsanwaltschaft, die übergeordnete Behörde der Polizei und damit weisungsbefugt, da war die Presse, die, wenn es ihr passte, auch einmal das schrieb, was nicht unbedingt in den Wahrheitsrahmen passte und da war natürlich auch sein Vorgesetzter, der Polizeipräsident, der wiederum seinem Chef dem Innenminister Rechenschaft ablegen musste. So pflanzte sich der Druck von oben nach unten fort, bis er das kleinste Rad im Getriebe erreicht hatte. Das war momentan meine Wenigkeit, denn ich war der Ermittler in diesem Fall, oder, wie man im Beamtendeutsch zu sagen pflegt, der Sachbearbeiter.
Ich setzte Wittenstein über die bisherigen Ermittlungen in Kenntnis und erzählte ihm alles bis in die Einzelheiten, die eigentlich keine waren. Bisher umgab mich nur ein grobes Geflecht von Tat und Opfer. Nicht die Spur eines Verdachts, nicht einmal die einer Vermutung.
Ich versprach Wittenstein, mich sofort wieder zu melden, wenn es etwas Aussagekräftiges gäbe.
„Na, denn man los!“ waren seine letzten Worte, bevor er auflegte.
Von Idar-Oberstein bis Talbrück waren es an die vierzig Kilometer. Leni und ich waren sofort nach Wittensteins Anruf losgefahren. Den Toten hatte man vor einer Stunde aufgefunden, dreißig Minuten würden wir noch brauchen, um vor Ort zu sein. Falls mein alter Opel Astra durchhalten sollte. Der TÜV hatte ihm kürzlich nach einem Werkstattaufenthalt auf „Intensiv“ noch einmal die Absolution für zwei Jahre erteilt, aber dennoch ächzte er in den Kurven und am Berg, dass es mir nur durch gutes Zureden gelang, ihn am Laufen zu halten. Glaubte ich jedenfalls. Wie einem doch so ein Stück Metall ans Herz wachsen kann!
„Sag mal, hast Du Lisa eigentlich angerufen, seit wir hier sind?“ fragte mich Leni plötzlich. Die Frage hatte etwas Scheinheiliges.
„Ja, du lieber Gott, wann hätte ich das denn tun sollen. Bisher war doch ständig Stress. Ich hatte es mir eigentlich für heute Abend vorgenommen. Meinst du, sie ist sauer? Wir sind doch erst zwei Tage hier.“
Leni lächelte verschmitzt.
„Mach dir mal keine Sorgen. Während du mit Wittenstein telefoniert hast, habe ich mit ihr gesprochen. Lisa hat mich auf dem Handy angerufen, weil deines offensichtlich ausgeschaltet war.“
„Ja, und?“
„Nichts und! Viele Grüße und du sollst sie anrufen, sobald du Zeit hast.“
Da hatten sich zwei gesucht und gefunden. Bei unserem letzten Fall in Forstenau hatte sich Leni in unserem Haus einquartiert, um nicht jeden Tag nach Feierabend die weite Strecke nach Trier zu ihrer Wohnung fahren zu müssen. In den Tagen darauf hatten sich die beiden sehr gut verstanden und sich sogar angefreundet. Ich versprach Lisa in Gedanken, mich sofort bei ihr zu melden, wenn die Arbeit getan war.
Wir waren das größte Stück der Fahrt auf der Bundesstraße gefahren, die endete nun in eine Landstraße. Wir ließen Weilersberg mit seinen „Hunsrück-Milchwerken“ rechts liegen und fuhren ins Tal in Richtung Talbrück.
„Wetterleuchten ist das nicht.“ Leni sah krampfhaft nach vorne durch die Frontscheibe.
Aus der Ferne blinkte es uns schon in blauen und gelben Farben entgegen. Die Kollegen von der Polizeiinspektion und sicherlich die Feuerwehr warteten bereits auf uns.
„Da sind Sie ja“, wurden wir beide von einem Mann, Mitte fünfzig, in Zivil, begrüßt. „Ich bin Hauptkommissar Friedel Schrammer von der Kriminalinspektion Bernkastel-Wittlich. Ihr habt bisher nichts verpasst. Die Feuerwehr ist gerade eben eingetroffen und dabei die Leiche zu bergen. Wollen wir?“
Schrammer drehte sich um und ging voraus. Ich sah Leni von der Seite an. Doch die kümmerte sich nicht um mich, sondern steuerte mit schneller werdenden Schritten den Tatort an. Offensichtlich hatte sie das Jagdfieber gepackt. Diesen Ausdruck kannte ich inzwischen bei ihr. Ich musste meine Schritte vergrößern, um mitzuhalten.
Rund um den Stausee war inzwischen einiges los. Gaffer hatten sich eingefunden und die Kollegen der Schutzpolizei hatten alle Hände voll damit zu tun, den Tatortbereich freizuhalten. Auf der Straße oberhalb des Sees hupten Autos. Offensichtlich parkten diese vorwitzigen Menschen dort ihre Autos auch so rücksichtslos, wie sie sich hier unten verhielten.
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