Ich selbst fühlte mich nicht so richtig wohl. Müde war ich auch noch nicht. Also zog ich aus dem Regal mit meinen rund zweihundert DVD-Filmen die „Gratest Hits“ von TOTO, einem Live-Zusammenschnitt der Kult-Rockband aus dem Jahr 1995 heraus und legte sie in den Rekorder. Während Steve Lukather`s „I`ll be over you“ erklang, nippte ich an meinem Glas Rotwein, lehnte mich zurück und schloss die Augen. Derweil der Sänger seiner Angebeteten versprach, immer für sie da zu sein, machte ich mir schon fast Gewissensbisse wegen Lisa. Wie oft hatte ich ihr versprochen, gemeinsam mit ihr Dinge zu unternehmen, wegzufahren, ziel- und planlos über den Hunsrück, durch die Wälder, die Täler. Alleine mit ihr, ohne Telefon, ohne die ständigen Anrufe, die auch nicht vor meiner Freizeit Halt machten. „Der Polizeibeamte ist immer im Dienst, auch Sie, Hauptkommissar Heiner Spürmann“, hörte ich Willibald Wittenstein, meinen Chef, sagen. Er hatte Recht. Wie oft hatte ich das am eigenen Leib erfahren müssen.
Ich erschrak. Die Musik hatte gewechselt und war härter geworden. Ich drehte „Kingdom of Desire“ leiser und beobachtete Lisa. Doch sie schlief tief und fest.
Aber mit einem Schlag dann war plötzlich die friedliche, fast eheähnlich anmutende Idylle vorbei. „Du bist immer im Dienst!“ schien mir das Telefon zuzurufen und ich sah Wittenstein förmlich mit erhobenem Zeigefinger vor mir stehen. Das Telefon läutete weiter. Lisa rieb sich die Augen und setzte sich aufrecht.
„Musst du los?“ fragte sie und ich zuckte unwissend und erwartungsvoll mit den Achseln.
„Ja, Spürmann?“
Am anderen Ende der Leitung hörte ich Stimmen, die durcheinanderredeten. Mein Tinnitus, der sich immer dann meldete, wenn es begann stressig zu werden, versetzte mich auch dieses Mal nicht. Schließlich meldete sich Kollege Paul Mereien vom Kriminal-Dauerdienst.
„Hallo, Heiner, ich hoffe, du schläfst noch nicht!“
Ich schlug die Augen zum Himmel.
„Es tut mir leid, es wird sicherlich eine lange Nacht für dich. Wir haben einen toten Penner in Idar-Oberstein. Sieht nach Fremdverschulden aus. Aber warte, ich gebe dich weiter. Der Chef möchte dich sprechen.“
„Hallo, Spürmann, so ist das nun mal, wenn man Bereitschaft hat.“ Es war Kriminaldirektor Wittenstein, mein direkter Vorgesetzter. Er war nicht nur mein Chef, sondern hatte alle Kriminalinspektionen unter sich, so auch die Mordkommission.
„Aber Spaß beiseite (wo hier wohl der Spaßfaktor lag?). Der Tod dieses, ja, äh Landstreichers wurde von einem seiner Kumpanen gemeldet. Faselt etwas von vergifteter Milch und so. Also, Fremdverschulden ist zumindest nicht auszuschließen. Kümmern Sie sich bitte darum! Der Zeuge sitzt noch auf der Dienststelle in Idar-Oberstein. Er bleibt dort, bis Sie eintreffen. Also, beeilen Sie sich!“
„Ich werde also mit meinem Privatwagen fahren. Ist das o.k.? Ich meine, wegen der Spesen und so.“
„Ja, das geht in Ordnung, oder haben Sie irgendwann einmal Ihrem Geld nachlaufen müssen?“
Ich gab Wittenstein keine Antwort, was er sicher zu deuten wusste und wechselte das Thema.
„Ich möchte Leni mitnehmen. Kollegin Marlene Schiffmann!“
„Na, Sie sind mir ja einer!“ Ich sah förmlich das Grinsen im Gesicht Wittensteins. „Ich kann mich erinnern, da reagierten Sie auf mein Angebot mit einer Frau zusammen zu arbeiten doch eher allergisch!“
Ich wusste, was Wittenstein meinte. Er spielte auf den Fall im Waldhausener Forst an, auf den „gekreuzigten“ Zuhälter Rietmaier. Leni wurde mir damals frisch von der Polizeischule zur Seite gestellt und ich gebe zu, das war anfangs überhaupt nicht in meinem Sinne, um es gelinde auszudrücken. Doch Leni mauserte sich zu dem, was man einen richtigen Kumpel nennt und dienstlich harmonierten wir in der Folgezeit sehr gut.
„Ich möchte wieder mit Leni arbeiten“, sagte ich frech in die Leitung. „Ist das zu viel verlangt?“
„Nun werden Sie mal nicht anzüglich, junger Mann“, kam sofort das Echo aus der Leitung. „Sie sollen Ihren Willen haben. Aber auch nur deshalb, weil ich mir von Ihnen beiden eine gute Arbeit verspreche. Enttäuschen Sie mich also nicht! Ich gebe Ihnen noch mal Kollege Mereien, der wird Sie mit den Einzelheiten vertraut machen.“
„Paul, verständige bitte Leni“, bat ich Mereien. Ich warte in Forstenau, in meiner Wohnung, auf sie. Von dort aus kann sie mit mir weiterfahren.“
Es dauerte eine knappe Dreiviertelstunde, da fuhr Leni vor.
„So, Heiner, da bin isch“, sagte sie in ihrem unverwechselbaren Adenauer-Dialekt. „Hallo, Lisa, isch muss deinen Mann leider entführen.“ Als sie dabei das „e" der Worte „deinen“ und „leider“ in der ihr eigenen Art in die Breite zog, konnten Lisa und ich uns ein Grinsen nicht verkneifen.
„Passt auf euch auf und kommt gut an!“ rief Lisa uns nach und ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass mein alter Opel Astra uns dabei unterstützen möge.
Die Kollegen von der Kriminalpolizei in Idar-Oberstein erwarteten uns bereits. Es war immer wieder das leidige Spiel. Sie, die selbst Kriminalbeamte waren, wurden bei Vorliegen eines Kapitalverbrechens gezwungen, zurück in die zweite Reihe zu treten und der Sonderkommission Platz zu machen.
So ist das nun einmal geregelt und die Zuständigkeitsgrenzen sind genauestens festgelegt. Das hat auch nicht im Geringsten etwas damit zu tun, dass sie die Ermittlungen nicht im Griff hätten, nein, es hatte ganz einfach damit zu tun, dass Sonderkommissionen nun mal die größere Erfahrung auf diesen Gebieten besitzen, da sie tagtäglich mit Kapitalverbrechen konfrontiert werden. Und vor allem konnten sie an dem Fall dranbleiben, ohne durch andere Einflüsse abgelenkt zu werden.
Aber aus Sicht der Kollegen, die ihre Dienststelle dafür zur Verfügung stellen müssen, dass andere ihre Arbeit in ihren eigenen vier Wänden tun, ist das schon hart, zugegeben. Aber in keinem Fall ist es so, dass die Kommission in aller Stille und unter Geheimhaltung aller Fakten ihren Ermittlungen nachgeht. In jedem Fall werden die Kollegen in die Ermittlungen integriert, ihnen werden Recherchen zugewiesen und vor allem: Sie werden als Gleichberechtigte in den Fall einbezogen. Ohne sie wäre die gesamte Kommission aufgeschmissen. Kommission ist gut. In diesem Fall bestand sie aus Leni und mir. Und umso mehr waren wir auf die Mithilfe der Kollegen angewiesen.
„Emmerich, Werner Emmerich, mein Name. Ich bin hier der Kommissar vom Dienst“, kam ein großer, kräftiger Kollege auf uns zu, gab mir die Hand und verbeugte sich kurz vor Leni. Doch die bot ihm ihre Hand, die Emmerich leicht errötend erfasste.
„Sie wohnen in der Pension ‚Bergkristall’, einem kleinen Hotel ganz hier in der Nähe. Ich hoffe, es wird Ihnen beiden zusagen.“
Dann kam Emmerich zum dienstlichen Teil.
„Meine Kollegin Susanne Quarto und ich haben uns bereits mit dem Penn… mit dem Landstreicher unterhalten. Der sagt, er habe heute am Abend im Supermarkt ‚Gutkauf’’ einen Liter Milch gekauft, der seiner Meinung nach vergiftet war. Einer seiner Kollegen hat die Milch getrunken und ist unmittelbar darauf verstorben. Ob die Milch tatsächlich die Ursache für seinen Tod ist, steht bislang nicht fest. Wie auch? Die Milch muss zuerst untersucht werden und der Tote natürlich auch.“
„Wo ist die Leiche jetzt?“
„Wir haben den ersten Angriff ‚gefahren’, Tatortaufnahme und so, Fotos gefertigt und die Namen der Stadtstreicher festgehalten, die im gleichen Gebäude wie der Tote und der Zeuge gehaust haben. Der Tote liegt in der Leichenhalle des städtischen Krankenhauses. Sein Name ist, warten Sie mal, ja, Scharlow, Martin Scharlow. Seine Person ist uns bekannt. Ein Harmloser, kaum straffällig geworden, nur so das Übliche. Ladendiebstahl, Bettelei und so. Ist keiner aus der hiesigen Gegend. Kommt aus Berlin. Der Zeuge Piefke ebenso. Scheint ihnen im Hunsrück besonders gut zu gefallen. Oder gefallen zu haben. Aber, wer stirbt schon gerne im Hunsrück?“
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