Noch einmal schaut der müde Mann sich um, ein zweites Mal treffen sich unsere Augen, die sagen: Ich weiß! Dann dreht er vor mir eine kleine Schleife, wendet sich ab und geht auf den Taxenstand zu.
*
Zwischendurch, wenn ich dort erwartungsvoll auf ( m )einer Bank sitze und auf die nächsten Gäste warte, geschieht in der Regel wenig. Doch manchmal…..
»Ist neben Ihnen der Platz frei?«, werde ich von einem gesetzten Herrn angesprochen.
»Bitte nehmen Sie doch Platz«, antworte ich freundlich und lasse meinen Blick über ihn gleiten. Etwa 55 Jahre alt, gepflegt, von schlanker Gestalt, nördlicher blasser Typ, so ist mein erster oberflächlicher Eindruck.
»Es ist immer wieder spannend, wenn man seine Kinder erwartet«, so fährt er fort. »Die waren auf Gran Canaria und kommen jetzt zurück. Es muss ein toller Urlaub gewesen sein, haben sie mir jedenfalls geschrieben!«
»Ich war ein paar Mal auf Lanzarote. Der teilweise dunkle, vulkanische Sand ist gewöhnungsbedürftig. Aber sonst? Sehr angenehmes Klima! Nicht zu heiß im Sommer«, antworte ich höflich unverbindlich.
»Ich bin sehr früh dran. Der Flieger soll erst in circa 40 Minuten landen. Aber man weiß ja nie. Wir kommen aus Schleswig-Holstein. Da muss man rechtzeitig losfahren.«
So redselig, der Herr, so denke ich. Ist ja eigentlich nicht die nordische Art. Da verhält man sich eher mundfaul, wie man zu sagen pflegt. Sicherlich liegt es an der Anspannung, dass ihm die Wörter so leicht entgleiten.
»War eigentlich so etwas wie eine Hochzeitsreise von den beiden!«, meldet er sich wieder zu Wort.
»Ach ja? „Eigentlich so etwas“. Was bedeutet das?«
»Sie wollten sich in Ruhe aussprechen, wann und wie die Hochzeit vonstattengehen soll. Wissen Sie, bei uns auf dem Lande ist das immer eine große Angelegenheit. Da werden dann Gott und die Welt eingeladen. Und wenn dann die Tante Emma 5. Grades vergessen worden ist. Oh, oh!«
»Dann ist offensichtlich Ärger vorprogrammiert. Das meinen Sie wohl damit!«
»Genauso verhält es sich. Die vielen Angehörigen unter einen Hut zu kriegen, das ist wirklich nicht einfach. Dem einen passt es so nicht, der nächste hat, daran etwas auszusetzen. Und so geht das in einer Tour.«
»Mein Herr! Ich kenne Ihre Familie natürlich nicht. Ich versuche mich, gerade in die Lage hineinzuversetzen. Also: Wenn ich mir vorstelle, zu heiraten und es verhält sich derartig kompliziert, ich denke, ich würde nach Dänemark fahren und mich dort vermählen. Das klappt ohne großes Aufgebot. Und dann könnte man als Ehepaar eine schöne Feier veranstalten. Wer kommt, kommt! Und wer sich auf den Schlips getreten fühlt? Dann ist es eben so!«
»Nein, nein, so geht das nicht bei uns. In diesem Fall hätten sie das ganze Dorf gegen sich aufgebracht!«
»Na ja, die werden sich irgendwann auch wieder abregen!«
»Mein Herr, man merkt, dass Sie aus einer Großstadt kommen, jedenfalls vermute ich es Ihrem Reden nach. In unserem Dorf in der Nähe von Husum ist seit Generationen jeder mit jedem verwandt. Und wenn sie eine Person davon ausschließen, schließen sie das ganze Dorf aus. So verhält es sich bei uns. Wir sind insgesamt eine große Familie«, antwortet er mir in seiner ruhigen Art.
»Und die jungen Leute rebellieren nicht dagegen?«, frage ich interessiert nach.
»Das kommt immer mal wieder vor. Legt sich aber wieder mit dem Älterwerden. Viele Junge sind deswegen weggezogen und kommen dann ab und an zu Besuch. Leider!«, sprich er etwas wehmütig und fährt dann fort.
»Deshalb ist unser Dorf mittlerweile überaltert. Wissen Sie, ich bin jetzt 55 Jahre alt und gehöre zu den jüngeren Menschen. Verrückt nicht wahr?«
»Sehr gewöhnungsbedürftig zumindest würde ich sagen. Hier in Hamburg ist so etwas kaum vorstellbar. Da wohnen die Leute seit Jahren Tür an Tür und kennen sich kaum. Mal wird ein Wort gewechselt, wenn man sich zufällig am Briefkasten trifft, oder man grüßt sich…. Und das war es auch schon. Glauben sie nicht, dass jemand seinen Nachbarn um Milch, Zucker oder Ähnliches bittet. Kommt nicht mehr vor, seitdem die Geschäfte bis nachts geöffnet haben. Und wenn wir für ein paar Tage in den Urlaub fahren, erfährt es niemand im Haus. Einbruchsgefahr wissen sie. Und glauben Sie nicht, dass jemand dem Nachbarn den Wohnungsschlüssel anvertraut? Nein, schon lange nicht mehr. Vertrauen, das ist so eine merkwürdige Angelegenheit in der Großstadt. Wem wollen Sie vertrauen, wo Sie ständig über Einbrüche, Überfälle, Betrügereien in der Zeitung lesen können. Das muss man akzeptieren!«
»Und finden Sie das gut?«, hakt der Holsteiner nach.
»Nein! Akzeptanz der Zustände oder auch Angst bestimmen die Handlungsweise! Hören Sie, meine Mutter hat mir die Verhältnisse, wie sie bei Ihnen offensichtlich noch immer herrschen, geschildert. Sie erzählte, niemand hat seine Haustür abgeschlossen, man hat sich gegenseitig besucht, geholfen, das Kind für ein paar Stunden abgegeben und so weiter. Ist vorbei seit den 70 er-Jahren. Sicherheitsschlüssel, spezielle Riegel, Kamerasysteme sind fast überall installiert.«
»Das ist doch furchtbar!«, ruft mein Nachbar aus.
»Mehr als das! Wirkt aber beruhigend. Hören Sie: Meine Nachbarin haben sie wegen ihrer Leichtgläubigkeit bereits zweimal ausgeraubt….«
»Ach, wie das?«, ruft er entsetzt aus.
»Mein sorgloser Herr! Das ging ganz einfach. Da hat eine jüngere Frau bei ihr geklingelt und zu ihr gesagt, dass sie sehr dringend auf Toilette müsse, weil sie schwanger sei. Und was macht meine Nachbarin? Sie ist übrigens 84 Jahre alt und wohnt allein, öffnet ihre Wohnungstür, lässt die Frau eintreten, die auch sofort auf die Toilette rennt. Als sie wieder herauskommt, bittet sie noch um ein Glas Wasser und die beiden Frauen gehen in die Küche. Dort lenkt sie die alte Dame mit irgendwelchem Gefasel über ihre angebliche Schwangerschaft ab. Irgendwie hat die Lügnerin es geschafft, dass die Haustür nicht verschlossen ist. Also, während die beiden sich in der Küche befinden, verschafft sich ihr Komplize Zutritt zur Wohnung und klaut ihr den Schmuck, der sich im Schlafzimmer in Schatullen befindet. Da lag auch noch etwas Bargeld, wenig zwar, nur ein paar Euro und schwupp war auch das weg und der Komplize wieder aus der Wohnung raus. Das Ganze hat höchstens 1- 2 Minuten gedauert. Unglaublich! Aber diese Klauer wissen, wo die Leute ihre Sachen aufbewahren. Meine Nachbarin hat das erst ein oder zwei Tage später bemerkt, als sie ausgehen und ihre Uhr umbinden sowie einen Ring überstreifen wollte. Und da sie sich nicht sicher war, hat sie erst einmal in der ganzen Wohnung gesucht. Und dann hat sie den Verlust realisiert und ist zur Polizei gelaufen. Und was meinen Sie, was man ihr dort gesagt hat?«, frage ich meinen Holsteiner Nachbarn.
»Ich weiß es nicht?«
»Ach, liebe Frau«, hat man zu ihr gesagt, »passen Sie besser auf Ihre Sachen auf. Das passiert in Hamburg diverse Male am Tag. Wir, die Polizei, geben immer Warnungen heraus, aber die liest ja keiner, offensichtlich!«
»Also hatte eigentlich die alte Dame noch Schuld daran, das wollen Sie mir andeuten«, antwortet der Fremde.
»Genauso ist es. Besser aufpassen? Wie soll das gehen? Solche Strolche sind doch Profis. Die besitzen eine sehr gute Menschenkenntnis!«
»Verrückt, diese Welt. Und Sie sprachen vorhin von einem zweiten Mal?«
»Hat sich ganz ähnlich abgespielt. Wieder eine solche Mitleidsnummer! Na ja, als mir das meine Nachbarin gestanden hat, dabei wollte sie mir nicht in die Augen sehen, habe ich zu ihr gesagt: „Sie werden aber auch nicht schlau daraus!“ Da hat sie nur still genickt und war weiterhin sehr kleinlaut. Aber wissen Sie, was sie mir gestern erst gesagt hat. Darauf werden Sie nicht kommen?«
»Was denn?«
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