„Uns vereint eine telepathische Verbindung“, erklärt Annikki. Wie immer kein Wort mehr als nötig. Ich blicke sie fragend an. „Der Jäger folgt uns in einigem Abstand. Er wird wissen, wie er sich um sie kümmern muss.“
Plötzlich sehe ich ganz neue Möglichkeiten. „Er hilft uns?“, frage ich hoffnungsvoll.
Annikki nickt ernst. „Ihr seht ihn vielleicht nicht, aber er ist in den Wolken über uns und in den Wäldern und Schluchten, die zurückliegen.“
Ich blicke auf die Berge in der Ferne und versuche, den Weg zu erkennen, den wir gekommen sind. Es ist nicht schwer: Die felsige Straße schlängelt sich immer auf dem sichersten Pfad um die steilen Wände herum. Vielleicht ist es ein Handelsweg, überlege ich. Vielleicht sind wir sogar schon anderen Reisenden begegnet – oder anderen Gefangenen.
Annikki lenkt meine Aufmerksamkeit zurück auf die Soldaten. „Die Drachen können ihn und sein Pferd riechen“, sagt sie, fast belustigt.
Ich beobachte die Männer, die ihre Tiere füttern oder grasen lassen, während andere, die zur Wache abgestellt sind, zu uns herüberblicken, die Lanzen fest in ihren Fäusten. Es scheint sie nicht zu stören, dass ihre Reittiere immer wieder die Köpfe wenden und in den Wind wittern. Einer der Drachen stößt einen Schrei aus, aber niemand reagiert.
Als hätte Annikki meine Gedanken gelesen, schüttelt sie fast unmerklich den Kopf. „Sie werden ihn nicht bemerken, Piper. Er hat sich daran gewöhnt, in der Unsichtbarkeit zu leben; er ist wie ein Schatten, der leise zuschlägt. Selbst die Menschen sehen ihm niemals an, was er eigentlich ist.
„Fast ein bisschen wie ich“, sage ich lächelnd, während das Wort unsichtbar in meinem Kopf nachhallt.
Die Zwölfe lächelt gutmütig. „Also was sagst du?“
Ich mustere mein Einhorn besorgt und nicke langsam. „Es sieht so aus, als wäre er unsere einzige Chance.“
Annikki erhebt sich. „Wir schaffen uns selbst eine Chance.“ Ich erkenne, dass sie das Thema abgeschlossen hat, als sie mir aufhilft und Luna genauer begutachtet. „Bis dahin besorgen wir Luna noch ein bisschen Zeit.“
Die Stute hat den Kopf gehoben und schaut in die Ferne. Vorsichtig befühle ich ihre Stirn. Sie ist heiß und geschwollen; am Ansatz des Horns klebt das trockene, dunkelrote Blut. Die Wunde beginnt zu eitern, und ich spüre neben der Hitze ein stetiges Pochen unter der Schwellung.
„Ich werde dafür sorgen, dass die Fahrt sie nicht bis an ihre Grenzen beansprucht. Ich gebe ihr etwas, das ihr die Schmerzen nimmt und die Schwellung zurückgehen lässt.“
Es sieht aus, als hätten die Hexen versucht, das Horn von der Seite her anzusägen. Sie kamen beinahe bis zur Hälfte; vielleicht hätten sie es dann abgebrochen, und Luna wäre verloren gewesen. Dann hätte selbst Annikkis geheimnisvolles Phantom nichts mehr ausrichten können.
Die Zwölfe wandert umher, als würde sie etwas suchen. „Vielleicht kann ich eine Kompresse auflegen“, murmelt sie, „mit Magie würde sie halten, und hier wachsen viele Kräuter. Wir sollten die Stelle auch kühlen und die Wunde ein wenig reinigen, sie eitert viel zu stark. Wahrscheinlich ist Schmutz hineingekommen. Ebenso das Bein …“ Sie macht eine beiläufige Bewegung in Lunas Richtung. Einen Augenblick später scheint sie uns fast vergessen zu haben. Auf der Suche nach den richtigen Zutaten entfernt sie sich langsam, und ich gestehe mir ein, dass ich im Moment nur warten und meinem Einhorn Gesellschaft leisten kann.
„Kannst du dich nicht mit Magie heilen?“, frage ich Luna.
Sie schnaubt, und es klingt abfällig.
Ich lächele. Wenn sie sarkastisch sein kann, geht es ihr wahrscheinlich schon besser.
Dann sehe ich, dass die Soldaten begonnen haben, missmutig ihren Proviant mit meinen Freunden zu teilen. Vielleicht bleibt mir noch ein Moment, bis sie mich holen.
Während das Einhorn neben mir grast, nehme ich das lederne Buch aus meinem Rucksack, das mir Andy gab. Ein guter Moment, um den ersten Eintrag zu machen.
Seit drei Tagen sind wir nun unterwegs. Wir haben unsere Suche begonnen und wurden doch gleich wieder von ihr abgebracht. Während die Vampire Gillian und Joice zwei unserer Einhörner zu Liliths Tempel bringen, werden wir von einer drakónischen Patrouille in die Hauptstadt dieses Landes eskortiert, das außer Krieg nicht viel zu kennen scheint.
Wir müssen abwarten, was uns hinter den Toren Dracgstadts erwartet. Wie man dort über unser Schicksal entscheidet. Aber ich bin froh, dass ich nicht allein bin.
Ich fordere Luna auf, zurück zu den anderen zu gehen, und sie fragt mich unterwegs, was ich geschrieben habe.
„Kannst du etwa nicht lesen?“, necke ich sie. Sie schubst mich mit ihrer Nase, aber im selben Moment verzieht sie das Maul vor Schmerzen. Ich streiche ihr tröstend über den Hals und suche mit den Augen nach Annikki.
Beim Wagen werden die Stimmen lauter. Robin hat sich vor den Soldaten aufgebaut und ist scheinbar auf dem besten Weg, sich ernsthaft mit ihnen anzulegen. Ohne Zweifel stand uns das seit unserem Zusammenstoß bevor; er ergab sich nur uns zuliebe, doch insgeheim habe ich geahnt, dass er früher oder später auf die Barrikaden gehen würde.
„Was ist passiert?“, erkundige ich mich bei Brendan, und er erklärt mir die Entwicklung der Auseinandersetzung.
„Einer der Soldaten meinte zum Hauptmann, er fände es reine Zeitverschwendung, die Gefangenen hier einfach anhalten und aussteigen zu lassen, zumal wir bald in Dracgstadt wären. Darauf sagte Hauptmann Estruhl, niemand außer ihm habe zu entscheiden, ob und wo wir halten und eine Pause machen. Der Soldat bezeichnete ihn als leichtsinnig, uns hier frei herumlaufen zu lassen, und der Hauptmann wies ihn zurecht und sagte, dass wir keine Feinde wären, wogegen der andere schon protestieren wollte. Hier mischte sich Robin ein und forderte eine Erklärung für unsere Gefangennahme, wenn wir doch nicht als Verdächtige angesehen werden. Ein ganz einfaches Dilemma.“ Er zuckt mit den Schultern.
„Ich kann mir gut vorstellen, was er davon hielt“, sage ich – unschlüssig, ob ich das Ganze leichtfertig abtun kann. Gedankenverloren murmele ich: „Hoffentlich macht er keine Dummheiten!“
Wahrscheinlich streiten sie schon eine Weile. Jetzt geht es gerade darum, ob der Hauptmann einen Fehler gemacht hat, indem er uns mitnahm oder aber wir uns nur zur falschen Zeit am falschen Ort befanden. Sicher stimmt beides irgendwie. Vielleicht hätten wir uns mit unserem Auftrag rechtfertigen können, doch von den Einhörnern scheinen die Männer kaum beeindruckt. Aber dürfen sie uns denn einfach so festnehmen und abtransportieren? Dabei fällt mir ein, dass wir die Gesetze in diesem Land gar nicht kennen. Wer weiß, wozu man hier noch alles berechtigt ist? Oder wofür man eingesperrt wird …
Während Hauptmann Estruhl immer wieder auf seinen Befehl von oberster Stelle verweist, der ihn eindeutig dazu auffordert, alle verdächtigen Personen im Umkreis in die Hauptstadt zu bringen, beharrt Robin stur auf seiner Sichtweise, nach der es für unsere Schuld – selbst einen Verdacht – keinen Hinweis gibt. Sein Blick ist finster, und seine Stirn liegt in Falten. Ich bemerke, wie ich nur darauf warte, dass er irgendetwas mit seinen Gedanken davonfliegen lässt. Als deutliche Drohung, oder vielleicht sogar als direkten Angriff.
Aus dem Augenwinkel fixiert er den Drachen, in dessen Satteltaschen unsere Waffen verstaut wurden. Im nächsten Moment hält er ein Schwert in der Hand. Die Soldaten weichen erschrocken zurück, als die Waffe durch die Luft und über ihre Köpfe hinweg in seine Hände gleitet. Der Hauptmann blickt ihn überrascht an.
„Was ist …“, stammelt er, doch Robin lässt ihn nicht ausreden. Estruhl hat seine Lanze beiseite gestellt und trägt nun nur noch ein Kurzschwert an seinem Gürtel, womit er dem Anderthalbhänder eindeutig unterlegen ist. Er pariert einige Angriffe, doch schon nach kurzem Kampf sieht er sich der Klinge Shiraana gegenüber, die auf seine Brust gesetzt ist, und lässt seine Waffe sinken. Noch immer verblüfft blickt er Robin direkt in die Augen.
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