Ich schüttele den Kopf. „Und die Einhörner im Stich lassen? Das dürfen wir nicht. Deswegen sind wir schließlich die Krieger des Horns und niemand anderes.“ Ich bin nicht halb so überzeugt davon, wie ich es gerne wäre. Vielleicht muss ich es mir nur immer wieder einreden, um es irgendwann zu glauben. Ich wünschte, ich wäre so optimistisch wie Dina. Wieder schweift mein Blick über die friedlich Schlafenden. Wenn man die entspannten Gesichter sieht, könnte man wirklich glauben, wir hätten uns lediglich eine Weile auf eine andere Art zu reisen verlegt und wären nicht gefangen in einem schaukelnden Gefährt, das uns wer weiß wohin bringen wird …
Ich beschließe, nach Luna zu sehen, und krieche zu dem Vorhang an der Rückseite des Planwagens. Ich schiebe den Leinenstoff ein Stück beiseite und werfe einen Blick nach draußen. Das Einhorn trabt keuchend neben der Kutsche her, sein Blick fleht mich an, es von diesem mühseligen Trott zu erlösen. Ich muss die Tränen unterdrücken, die mir in die Augen steigen, und die Erkenntnis trifft mich wie eine kalte Dusche: Nichts wird wieder gut werden. Luna kämpft noch immer um ihr Leben.
Von der Wurzel ihres Stirnhorns breiten sich Strahlen dunkelroten Blutes über den gesamten Kopf aus und laufen das Fell hinab, bis zu den Nüstern, wo sich die Tropfen der wieder aufgerissenen Wunde sammeln, um von Zeit zu Zeit eine Spur auf dem Pfad durch die Grasberge zu hinterlassen. Der Verband an ihrem Bein ist blutgetränkt. Ihre Augen sind grau und traurig geworden, und auch das Fell ist stumpf und strahlt nicht mehr in dem leuchtenden Weiß wie zuvor, als wir noch keinen Gedanken an die Hexen verschwendeten – und die Gefahr, die von ihnen ausging. Diesen Leichtsinn bezahlte Destino mit dem Leben.
Ich bemerke, dass Andy mich beobachtet, und winke ihn heran. Mein Blick sucht nach dem Hauptmann, der nun nicht mehr auf meiner Seite des Wagens reitet, sondern mit seinem smaragdgrünen Drachen die Karawane anführt, die uns in die Hauptstadt des Königreichs Drakónien bringen soll.
Luna schnauft und schüttelt den Kopf, den sie unentwegt am Boden hält. Leise rollt eine Träne über meine Wange. Der Drachenreiter neben mir wird aufmerksam, als ich ein Schluchzen unterdrücke und mir auf die Hand beiße.
„Mach, dass du wieder reinkommst! Wo sind überhaupt deine Fesseln?“
Ich blicke ihn hasserfüllt an, worauf er drohend seine Lanze schwenkt. Als wir alle in die drakónische Kutsche eingestiegen waren, begann Robin sofort, unsere Stricke mit seinen telekinetischen Fähigkeiten zu lösen, sodass wir uns besser in dem schaukelnden Gefährt bewegen konnten. Bewacht von den Drachen und ohne unsere Waffen, ergaben wir uns irgendwann unserem Schicksal.
Andy greift nach meiner Hand. Seine Züge verhärten sich, als er Luna sieht und den stechenden Blick des Soldaten.
„Gibt es Probleme?“, ruft Hauptmann Estruhl nach hinten und lässt die Reiter und die Schimmel vor der Kutsche halten.
„Sie können das nicht machen!“, fahre ich ihn an ohne nachzudenken. „Die Einhörner sind das Wichtigste in unserer Welt für die Menschen – und sehen Sie, wie Sie mit ihnen umgehen! Die Hexen haben Luna schwer zugesetzt, und anstatt ihr eine Pause zu lassen, treiben Sie sie zu Höchstleistungen an! Wenn sie an ihren Verletzungen stirbt, werden Sie daran schuld sein! Sie kommen einfach daher und nehmen uns gefangen, ohne dass uns klar ist, weshalb! Und dann bringen Sie uns meilenweit von unserem Weg ab, nur um zu überprüfen, ob wir verdächtig sind! Damit dauert unsere Reise Tage, vielleicht Wochen länger, und wir werden es nie rechtzeitig schaffen, vor Gillian und Joice bei Lilith einzutreffen und die Einhörner vor ihr zu retten! Ihnen ist überhaupt nicht klar, was Sie da tun!“ Erregt blitze ich ihn an.
Der Hauptmann nimmt mich mit ernstem Ausdruck zur Kenntnis und mustert das Innere der Kutsche durch den offenen Vorhang. Andy hat sich hinter mir aufgerichtet und sieht ihm ebenfalls fest in die Augen. Von der Erschütterung des haltenden Gefährts erwacht, regen sich nun auch die anderen und erscheinen nacheinander an der Öffnung des Wagens.
„Was ist denn los, sind wir schon da?“, fragt Dina verschlafen, aber ich antworte ihr nicht. Annikki scheint sich zu ärgern, überhaupt eingeschlafen zu sein; sie überschaut die Lage mit einem Blick. Robin beobachtet misstrauisch die Soldaten, und ich bin überzeugt, dass er auf jeden kleinen Fehler sofort anspringen wird.
Erwartungsvoll starre ich den Hauptmann an und hoffe, dass meine Gebete erhört werden.
Bitte.
Für Luna.
„Wir machen eine Pause“, sagt er endlich an seine Männer gewandt, und ich atme erleichtert auf. Sofort greife ich nach meinem Rucksack und springe aus dem Wagen. Ohne mich noch einmal nach den anderen umzudrehen, bin ich im nächsten Augenblick bei meinem Einhorn. Erschöpft vom Laufen hält Luna noch immer den Kopf gesenkt und blickt mich dankbar aus ihren müden Augen an, als ich sie losbinde und von den Drachenreitern und der Kutsche wegführe. Unter einer hohen Fichte lasse ich sie grasen und reibe ihren verschwitzten Hals mit einer Satteldecke ab, die mir Andy bringt.
Danach setze ich mich neben ihr ins Moos, während Andy nach seinem eigenen Einhorn sieht. Ich folge ihm mit den Augen und merke dabei, wie erleichtert ich bin, dass er mit mir hier ist. Ein weiterer Grund, um zu überleben. Für Luna und für Andy, und natürlich unseren Auftrag.
Ich beobachte das Einhorn beim Grasen und denke daran, wie ausgehungert ich selbst bin. Annikki nähert sich mir und reicht mir einen Apfel, als hätte sie nichts anderes erwartet. Die Schmetterlingsflügel auf ihrem Rücken sind vom Schlafen zerknittert, und obwohl sie sonst so fröhlich flattern, hängen sie jetzt träge herab. Sie ist eine Zwölfe, erinnere ich mich, verwandt mit den Elfen, sie kann fliegen und beherrscht die Magie – nicht gerade etwas, woran man sich schnell gewöhnt.
„Sind die anderen in Ordnung?“, frage ich. Sie nickt und schlägt beruhigend die Augen nieder. Allen geht es gut.
„Denk nicht so viel darüber nach“, meint sie.
„Es ist schwer, das nicht zu tun, nach allem was passiert ist.“ Ich höre die Bitterkeit in meiner eigenen Stimme.
„Jetzt ist es vorbei“, sagt sie ruhig. „Wir sind vorübergehend in Sicherheit. Sie werden uns nicht verfolgen und riskieren, es mit einer Hand voll Soldaten und uns gleichzeitig aufzunehmen. Am Tag trauen sie sich ohnehin kaum aus dem Schutz ihrer Schatten. Ebenso wie unsere anderen Feinde …“
Ich erinnere mich an das Heulen der Wölfe und bin froh, dass es uns gerade nicht verfolgt. Gleichzeitig bemerke ich, dass wir nun schon eine ganze Hand voller Gegner haben. Ich frage mich, ob das je aufhören wird.
„Wenn ich überlege, was uns noch bevorsteht, mache ich mir Sorgen“, gestehe ich. Mein Blick wandert über das smaragdfarbene Gras, das so weich aussieht, dass ich mit der Hand darüber streichen muss. Es macht es mir leichter, über meine Angst zu sprechen. „Kann Luna diese Reise überhaupt unbeschadet durchstehen? Sie ist so schlimm verwundet … Gibt es keine Möglichkeit, ihr diesen Weg zu erleichtern?“ Flehend blicke ich in Annikkis Augen.
In ihrem Gesicht liegt so viel Güte, als hätte sie tatsächlich die Macht, eine Entscheidung zu treffen. „Es gibt eine Möglichkeit“, erklärt sie. „Es wäre sehr sinnvoll, deine Stute zu schonen, damit sie wieder zu Kräften kommt. Sie würde uns auf unserem Weg sonst behindern …“
Bei ihrem sachlichen Ton muss ich schlucken, aber dann gebe ich ihr recht. Noch immer bin ich mir nicht sicher, welche Ziele die seltsame Zwölfe verfolgt. Aber bisher hat sie uns geholfen.
„Erinnerst du dich an den Jäger? In meinem Haus?“, fragt sie.
„Das Phantom?“ Obwohl ich in der Sonne sitze, spüre ich einen Schauer auf meinem Rücken, als ich an die Begegnung zurückdenke. Ein schwarzer Reiter, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Vampire zu vernichten. Ein Auftragsmörder, könnte man sagen. Aber sind wir das nicht auch?
Читать дальше