Schon stand er in der Nähe des Pferdes. Plötzliche Bewegungen vermeidend, fing er langsam an, das Lasso zu schwingen. Er wusste, dass er nur einen Versuch hatte. Er fühlte sich wie im Zirkus; es fehlte nur der Trommelwirbel. Das Publikum schaute gebannt zu. Er schwang, ging näher heran, schwang das Seil weiter, noch ein Stück näher. Jetzt blieben noch fünf Meter. Jetzt musste es passen. Er ließ das Seilende los. Die Schlinge fegte durch die Luft. Wen traf sie? Das Pferd? Einen Zaunpfahl? Einen Passanten? Oder ging er Schuss ganz daneben? Ludwig fixierte das Tier mit den Augen, als wollte er es ins Ziel seines Wurfs zwingen.
Das Lasso neigte sich aus der Luft nach unten, immer weiter. Fast hatte es das Pferd erreicht. Nur noch einen winzigen Moment. „Bleib bloß stehen, du Gaul!“, hoffte Ludwig inbrünstig. Jetzt war das Lasso an seinem Ziel angekommen, es legte sich wie eine Kette um den Pferdehals. Er hatte tatsächlich getroffen!
Wohlige Erleichterung durchströmte seinen Körper. Das bis soeben noch ungestüme Ungeheuer war genauso überrascht wie Ludwig, dass das Kunststück gelang. Es machte keinen Versuch zu türmen. Nicht zu fest, aber bestimmt zog er das Seil an.
„Und jetzt?“, schoss es ihm durch den Kopf. Ein geglückter Lassowurf war das eine, ein Pferd zu bändigen etwas ganz anderes. Zum Glück schickte ihm der Himmel einen Retter. Wie aus dem Nichts stand da Anton neben ihm. Er ging auf das Pferd zu, fasste nach dem Lassoseil, das Ludwig immer noch fest in den Händen hielt und hangelte sich bis zum Zaumzeug des Tieres durch. Dort hatte er das Pferd im Griff und er beruhigte es, so gut er es vermochte. Kurz blickte er sich nach dem Lassowerfer um, stieß ein kaum wahrnehmbares „Danke“ hervor und führte das Pferd zügig weg von der Menge. Dann konnte nichts weiter passieren. Ludwig atmete durch.
Der Reiter trottete hinter Pferd und Anton hinterher. Er bekam heute gewiss keine Gelegenheit mehr zum Galopp, jedenfalls nicht mit diesem Pferd. Der Menschenauflauf zerstreute sich schnell, als wäre nichts gewesen. Die Leute hier machten halt nicht viel Aufhebens um solche Sachen.
Ludwigs Puls jagte immer noch. Aber er hatte es geschafft!
Jetzt nach dem siegreichen Duell mit dem Streitross befand er sich in der richtigen Stimmung, um zu Toni ins Büro zu treten und den Wunsch nach dem Helfer vorzutragen. Er wollte die Gunst der Stunde nutzen.
Gewiss war der Chef im Bilde, denn nicht im Bilde zu sein, das war nicht Tonis Art.
„Bravo Herr Donner“, begrüßte Elvira Karl den Helden am Empfang. Ludwig nickte bescheiden. Na das hatte sich ja schnell herumgesprochen. Er fragte nach dem Chef.
„Zu Herrn Kohlbayr? Ja der ist da“, bestätigte die Dame. Sie ließ Ludwig umgehend zur Audienz vor.
Toni trat gerade vom Fenster zurück. Er setzte den Cowboyhut ab und warf ihn auf den Schreibtisch. Dann ließ er sich in seinen Bürolehnstuhl fallen und viel hätte nicht gefehlt und er hätte die Füße auf den Tisch gelegt. Das tat dem aber im Winter bei all dem Matsch nicht gut. Also ließ es Toni sein.
Er lobte Ludwig für den Lassowurf. Er war also im Bilde.
Und der Gelobte preschte seinerseits gleich mit der aufgestauten Frage nach einem Helfer vor.
Toni argwöhnte: „Noch ein Bewacher?“, und bohrte mit seinen Augen Löcher in die Decke. Scheinbar ging er das verfügbare Budget durch.
Ludwigs Blick blieb an Tonis Cowboyhut hängen. „Sieh es doch mal so“, sagte er, einer plötzlichen Eingebung folgend, „wir sind Cowboys.“ Dabei zeigte er auf sein Basecap wie auf eine logische Fortsetzung des Cowboyhuts in die heutige Zeit. „Und wir brauchen noch einen Spurensucher, einen Scout.“
Im Western gab es diese Figuren. Sie rekrutierten sich aus Indianern oder anderweitigen Außenseitern. Sie stammten oft aus einem anderen Kulturkreis und wegen ihrer Andersartigkeit wollte sonst keiner was mit ihnen zu tun haben. Aber in den Momenten, in denen man sie brauchte, betraten sie als unverhoffter Verbündeter die Szene und lieferten oft die entscheidenden Hinweise.
Toni zog fragend die Augenbrauen nach oben.
Und Ludwig packte seine Argumente aus, die er sich morgens auf der Autofahrt zurechtgelegt hatte. „Na irgendwohin müssen die Pferde doch gegangen sein! Ich muss mögliche Wege abchecken und davon gibt es viele. Das schafft man zu zweit besser.“
Toni schwieg. Er schaute abwechselnd zu Ludwig und durchbohrte ihn mit seinen Augen und dann wieder zur Decke, in die imaginäre Welt der Zahlen. Er war nicht leicht zu überzeugen.
Ludwig hatte Zweifel, ob seine Argumente reichten. Also spielte er seine letzte Karte aus: „Schließlich kann ich nicht stets alleine das Lasso schwingen.“
Toni berührte diese forcierte Erinnerung unangenehm, dass der Wiggerl hier vor einer Viertelstunde eine brenzlige Situation bereinigt hatte. Er stierte nochmals kurz an die Decke, als ob dadurch von dieser zusätzliches Geld herabregnete.
Und zum Glück besann der sich dann darauf, dass sie im Kapitalismus lebten und dass ein Helfer Ertrag abwerfen konnte, indem er den Objektschutz und die Suche nach Spuren und Anhaltspunkten beschleunigte. Und außerdem war gerade Winter und draußen nicht so viel zu tun. Da brauchte man kaum Saisonarbeiter und dafür konnte man Ludwigs „Scout“ einstellen.
„Na gut, dann mach dich auf die Suche!“, befahl Toni gnädig. „Aber ich will den Burschen sehen.“ Damit nahm er seinen Hut und Ludwig seinen und sie gingen auseinander.
Ludwig freute sich. Nein, das war in der Tat kein gewöhnlicher, beschaulicher Tag. Binnen eines Vormittags hatte er zwei bedeutende Siege eingefahren. Er machte sich am besten gleich auf die Suche nach einer Verstärkung.
Doch woher diese Leute nehmen? Die wuchsen nicht auf Bäumen, vor allem nicht in der bayerischen, schneebedeckten Prärie. Wenn Ludwig durch die Straßen fuhr, dann waren da keine überzähligen, streunenden Scouts unterwegs.
Er konnte ja sein Glück in der Zeitung suchen. Oder er fragte Elvira Karl, ob sie nicht jemanden wüsste. Die schaute ihn nur entgeistert an und Ludwig bereute seine Frage im gleichen Moment, in dem er sie gestellt hatte. Die Dame musste ja denken, er habe gar keinen Plan. Da schaffte er seine Arbeit schon nicht alleine und dann wusste er noch nicht einmal, woher er einen Hilfs-Hilfssheriff bekam?
Doch dann zauberte sie doch noch einen Vorschlag aus dem Handgelenk: „Versuchen Sie’s doch mal bei der Agentur für Arbeit!“
Tja, die hieß bis vor kurzem noch Arbeitsamt und wenn in Deutschland etwas helfen konnte, dann ein Amt. Unter der Rubrik „Scout“ wurde man dort gewiss nicht fündig, aber womöglich war jemand für Überwachungsaufgaben oder ein Tagelöhner im Angebot, der zufällig ein Universalgenie darstellte? Ein Versuch konnte nicht schaden. Ob die angesichts des allgegenwärtigen Datenschutzes überhaupt Informationen telefonisch herausgaben? Sie gaben, zum Glück.
„Sie suchen also jemanden für den Wachdienst?“, vergewisserte sich die freundliche weibliche Stimme der Agentur für Arbeit am Telefon. Den dazugehörigen Namen hatte sich Ludwig nicht gemerkt, aber er freute sich trotzdem über den Klang. Er hätte ja auch an einen verdrießlichen Mittfünfziger geraten können.
Tastaturklappern im Hintergrund. „Hm“. Wieder Tastaturklappern. Ludwig wartete ab. „Sind Sie noch dran?“, fragte die Stimme, die sich jetzt eher besorgt als freundlich anhörte. „Wissen Sie, es ist schwierig, Leute zu vermitteln.“
„Das kann ich mir vorstellen“, meinte Ludwig, als er fühlte, dass er auch mal etwas sagen musste. Sicher gaben die Arbeitsagenten ihr Bestes. Wenn man das mit dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten verglich – da war jeder sein eigener bester Freund, wenn es um neue Arbeit ging. Und so manche Karriere kam, auf sich allein gestellt, ins Stocken. Da tat es doch gut, wenn man jemanden an der Seite hatte, so wie hier die Agentur.
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