Sie aß ihr Brot, sah die Nachrichten und danach irgendeinen Liebesfilm, aber als sie hinterher ihre Zähne putzte, hätte sie nicht sagen können, was sie gesehen hatte. Im Kopf war sie bei ihrem Problem, für zu alt gehalten zu werden.
„Zu alt“ wozu eigentlich, fragte sie sich. Ihre Arbeit bereitete ihr keine so große Freude mehr wie bisher, aber sie erledigte sie gewissenhaft. Und schließlich machte sie den Großteil ihres Lebens aus. Da sie keinen Partner hatte, definierte sie sich hauptsächlich über ihre Tätigkeit.
Sie hatte sich zwar als junge Frau gewünscht, als eine Frau Doktor der Biologie an der Uni zu unterrichten. Aber ihre Entscheidung, nicht abzutreiben und Hannes zu heiraten, hatte Konsequenzen gehabt, die sie sich so nicht vorgestellt hatte.
Als Sabine mit knapp drei Jahren im Kindergarten angemeldet war und Irene sich immatrikuliert hatte, um wie geplant weiterzustudieren, war sie wieder schwanger gewesen. Sie hatte diese erneute Fessel an den heimischen Herd verflucht, bis sie im fünften Monat eine Fehlgeburt hatte. Anstatt froh darüber zu sein, weil sie dann hätte ihr Studium aufnehmen können, hatte sie zunächst mit diesem Verlust zu kämpfen. In den fünf Monaten, in denen das Kind in ihrem Bauch herangewachsen war, hatte sie eine Beziehung zu ihm aufgebaut, sich schon wie seine Mutter gefühlt. Und kaum hatte sie sich einigermaßen erholt, hatte ihr Leben eine neue Wende genommen.
Die Fehlgeburt war dadurch ausgelöst worden, dass ihr geliebter Vater ihr erzählte, dass er an Parkinson erkrankt war. Ihre Mutter war mit seiner Pflege total überfordert, und so fuhr Irene, nachdem es ihr selbst besser ging, jeden Tag, nachdem sie Sabine im Kindergarten abgegeben hatte, zu ihren Eltern, um ihre Mutter wenigstens vormittags zu entlasten. In dieser Situation zu studieren, wäre zeitlich einfach nicht möglich gewesen.
So fand sie sich damit ab, ihr Studium nicht wieder aufnehmen zu können und entschloss sich stattdessen zu einer Umschulung, denn mit sechs Semestern Biologiestudium hätte sie in der freien Wirtschaft keine Chance auf eine Stelle gehabt, auf der sie sich hätte vorstellen können, dauerhaft zu arbeiten.
Als Lehrerin sah sie sich nicht. Also machte sie an der Abendschule eine Ausbildung zur EDV-Fachfrau. Nach eineinhalb Jahren bestand sie die Prüfung mit einer Zwei plus.
Ein früherer Geschäftskollege ihres Vaters, der der Familie nahe stand, brachte sie in die Firma, in der er Abteilungsleiter war. Dass Irene gute Grundkenntnisse in Biologie hatte, war von Vorteil; so konnte sie einiges von dem chemischen Fachwissen verstehen, das in den Briefen stand, die sie schreiben musste. Auch ihre guten Französischkenntnisse halfen ihr jetzt. Ihr Chef war sehr erleichtert, dass sie fortan ohne Mühe die französischen Briefe schrieb, die er ihr diktieren konnte, ohne – wie bei ihrer Vorgängerin – ständig die Schreibweise erklären zu müssen.
Zunächst arbeitete Irene nur halbtags, was ihr völlig reichte. Aber als Hannes dann gestorben war, musste sie aus finanziellen Gründen auf eine ganze Stelle aufstocken. Sie hatte zwar keine Karriere in dem Sinne gemacht, dass sie eine höhere Position, z.B. als Abteilungsleiterin, innegehabt hätte. Aber sie war die Sekretärin des Leiters der ausländischen Abteilung, musste am Telefon mit Franzosen und inzwischen auch manchmal mit Engländern sprechen und nach wie vor die französischen Briefe schreiben, die sie diktiert bekam. Ihre wechselnden Chefs hatten sie seit Jahren geschätzt und sich auf sie verlassen.
Die Probleme fingen erst an, als der letzte schon mit sechzig in Rente ging und der neue Chef kam. Einer, der mit Anfang vierzig auch nicht gerade blutjung war. Aber er hatte diese Position wohl „mit Vitamin B“ gekriegt, wie einige in der Firma behaupteten, weil er mit dem pensionierten Seniorchef weitläufig verwandt war.
Und er hatte es sich in den Kopf gesetzt, der Firma zu noch mehr Aufträgen und einer besseren Bilanz zu verhelfen. Allerdings hatte er dazu z.B. nicht die Chance genutzt, sich über Irene und einige andere Mitarbeiter erst mit der Firmenpolitik und vor allem mit den Mitarbeitern vertraut zu machen.
Vom ersten Tag an hatte er ihnen unnachgiebig und unfreundlich klargemacht, dass er von ihnen jederzeit Höchstleistungen erwartete, aber Schwächen und „minderwertige Arbeit“, wie er es ausdrückte, ahnden würde. Schließlich gäbe es jede Menge Arbeitslose da draußen, die nur darauf warteten, ihre Jobs zu übernehmen.
Wie allerdings diese minderwertige Arbeit aussah, definierte er nicht. Und somit fühlten sich alle ständig unter Druck, nur ja keinen Fehler zu begehen oder Überstunden abzulehnen.
Er führte neue Methoden ein, unter anderem in der Akquise der Kunden, und verprellte mit seiner herrischen Art etliche Stammkunden, die sich daraufhin eine andere Firma für ihre Projekte suchten. Nach einer Weile gingen die Aufträge zurück, was der Neue allerdings nicht auf seine Fehler zurückführte, sondern auf die ungenügende Leistung seiner Mitarbeiter. Sie schienen für ihn nur ein Mittel zum Zweck zu sein, der da hieß, Gewinne zu steigern.
Dies war wohl immer häufiger das neue Mantra vieler Chefs. Irene war zwar keine ausgebildete Personalmitarbeiterin, aber sie dachte bei sich, dass dieses Ziel nur mit motivierten Mitarbeitern, die man schätzte, zu erreichen war. Aber für den neuen Chef waren seine Leute keine Menschen, mit denen er auch einmal ein privates Wort wechselte. Er benahm sich unnahbar, nahm an keiner noch so kleinen Geburtstagsfeier teil. Er sprach nie ein Lob aus, hatte für niemanden ein freundliches Wort, übte nur Kritik und sprach Warnungen aus, was passieren würde, wenn die Situation sich nicht besserte.
Dann, nach etwa einem Jahr, als er offenbar seine Vorgaben nicht erfüllt hatte, begannen plötzlich die Entlassungen. Dazu gingen einige jüngere Mitarbeiter freiwillig, da sie sich in dieser feindseligen Arbeitsatmosphäre nicht mehr wohlfühlten, wie sie sagten.
Irene spürte die Freude an ihrer Arbeit nach und nach schwinden, bis sie sonntagsnachmittags bereits mit Grauen daran dachte, dass ab dem nächsten Tag wieder eine stressige Woche mit Problemen auf sie wartete. Aber nie im Leben hätte sie angenommen, dass die Kündigungswelle auch einmal sie erfassen würde. Dass sie mit fünfundfünfzig zu alt für ihre Arbeit sein sollte, kam ihr lächerlich vor, und dieses Argument wollte sie nicht akzeptieren.
Außerdem brauchte sie ihre Arbeit dringend. Hinter ihr stand kein Mann oder Lebenspartner, der ihr finanziell hätte unter die Arme greifen können, wenn sie ihre Arbeit verlor. Ob ihr Chef wusste, dass sie auf ihr Gehalt angewiesen war? Wahrscheinlich nicht, und wenn doch, war es ihm egal. Diese kaltschnäuzige Haltung machte ihr Angst.
War sie denn überhaupt noch etwas wert? Für ihren Chef wohl jedenfalls nicht. Ihre Mutter dümpelte in ihrer Welt des Vergessens, ihr war sowieso alles wurscht. Und Sabine? Mit ihr hatte sie nur oberflächlichen Kontakt. Ihre Tochter war ihr vor langer Zeit entglitten, damals, als Hannes so plötzlich gestorben war und Irene es in ihrer Trauer nicht schaffte, außer den anstehenden Aufgaben und der Arbeit im Büro auch noch Kraft für Sabine aufzubringen. Und sie hatten beide von Anfang an kein solch herzliches Verhältnis gehabt, wie das bei Sabine und Hannes der Fall gewesen war.
Vater und Tochter waren ein Herz und eine Seele, und Irene war sich oft wie das fünfte Rad am Wagen vorgekommen. Als Hannes dann tot war, hatte Irene das Gefühl, als mache Sabine ihre Mutter für den Verlust des Vaters verantwortlich.
Irene war seit langem schon auf sich allein gestellt und musste alle Entscheidungen und deren Konsequenzen auch allein tragen. Das war anstrengend und zermürbend.
Sie lag im Bett und fror innerlich. Nach einer Weile drehte sie sich auf die Seite, zog die Decke bis zum Kinn hoch und versuchte in den Schlaf zu finden. Nach einer weiteren halben Stunde war sie immer noch wach und dachte darüber nach, was Carola gesagt hatte. Sie müsse sich äußerlich „aufpeppen“, hatte sie es genannt.
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