Kapitel 5: Ein Bisschen von Allem
Carola bedankte sich artig für die Blumen. „Ich freue mich, dass du dich aus deinem Schneckenhaus herausgetraut hast und gekommen bist. Meinen Mann kennst du noch, oder? Ihr habt euch vor Jahren einmal auf einer Gartenparty kennengelernt.“
Ein grauhaariger Endfünfziger kam strahlend auf Irene zu und drückte ihr einen Sektkelch in die Hand. „Schön Sie wiederzusehen. Fühlen Sie sich wie Zu Hause, Sie kennen sich ja hier aus.“ Damit ließ er sie stehen. Carola hatte sich den Gästen zugewandt, die nach Irene gekommen waren. Also stand sie mit ihrem Glas in der Hand mitten im Wohnzimmer und schaute sich um.
Auf dem Esstisch weiter vorne lag eine weiße Satindecke, auf der sich Teller, Platten und Warmhalteschalen türmten. Ein Koch oder Kellner, da war Irene sich nicht sicher, arrangierte weitere Kostbarkeiten. Sie wäre gerne hingegangen, um nachzusehen, was Carola alles hatte auffahren lassen. Aber sie dachte, dass dies vielleicht ein Fauxpas gewesen wäre. Schließlich hätte es gewirkt, als sei sie nur des Essens wegen gekommen. Also wandte sie sich dem Wohnbereich zu.
Auf dem Tisch, an dem sie zwei Wochen zuvor bei ihrem Treffen gesessen hatten, stand eine hohe, durchsichtige Vase, prall gefüllt mit langstieligen roten Rosen, die in einer Art Gel zu stehen schienen, Wasser war es jedenfalls nicht. Das hatte irgendwie Klasse, wie alles in diesem Haus. Einen Blick für angenehmes Ambiente hatte Carola, das musste man ihr lassen.
„Dieser Matisse ist eine Wucht, finden Sie nicht auch?“ Irene drehte sich zu der Stimme um. Neben ihr stand eine Frau, die in etwa in Irenes Alter war. Sie hatte kurz geschnittene, hellblonde Haare, die ganz offensichtlich gefärbt waren, und war sehr schlank, eher schon dürr, und der dunkelblaue Glitzerfummel schlackerte unvorteilhaft um ihren Körper. Irene hätte ihr, schon rein aus egoistischen Motiven, gerne ein paar Kilos abgegeben.
Die Frau starrte wie gebannt das Bild in dem roten Rahmen an. „Diese laszive Lässigkeit hat was. Wer ihm da wohl Modell stand?“
Irene zuckte unbeholfen die Schultern. Sie hatte sich bisher weder mit Matisse noch mit anderen Malern beschäftigt, als dass sie eine sinnvolle Aussage hätte treffen können. „Ich kenne mich mit Malerei nicht aus, tut mir leid.“
„Macht nichts, man kann ein Bild auch so genießen. Und der Rahmen ist wirklich gewagt.“ Die Frau schlürfte von ihrem Glas und verdrehte die Augen. „Ach, und dieser Moët schmeckt wieder köstlich; darauf freue ich mich immer, wenn ich bei Carola bin. Der Champagner ist jedes Mal perfekt gekühlt und genau richtig: nicht zu süß und nicht zu herb!“ Damit drehte sie sich um und schlenderte zu einem Grüppchen von Leuten, die vor dem Buffettisch standen.
Irene trank einen Schluck von ihrem - wie sie jetzt wusste - Champagner, und seufzte innerlich. Genauso hatte sie sich diese Menschen hier vorgestellt: oberflächlich und bar jeglicher Sorgen.
Carola kam auf sie zu. „Na, amüsierst du dich gut? Meine Freundin Charlotte hast du ja eben schon kennengelernt. Die Arme! Sie war lange nicht mehr hier.“ Sie beugte sich zu Irene und flüsterte: „Zuerst starb ihr Mann plötzlich an einem Infarkt und dann bekam sie die Diagnose Brustkrebs! Zum Glück scheint sie inzwischen geheilt zu sein, aber so etwas muss man erst einmal verkraften.“
Irene war verblüfft. Die Frau war wohl doch nicht so sorglos, wie sie es vermutet hatte. Sie nahm sich vor, diese Leute nicht stur vorzuverurteilen, wie sie das gerne tat, wenn sie sich in einer Gruppe minderwertig fühlte.
Carola drehte sich zu den anderen Gästen um. „Freunde, es ist angerichtet. Ihr dürft euch auf die Häppchen stürzen. Guten Appetit!“
Und Irene sah erstaunt zu, wie die feinen Damen und Herren sich beinahe gegenseitig aus dem Weg bugsierten, um nur ja als Erste das Büfett plündern zu können.
Plötzlich stand ein Mann neben ihr, der das Gedränge am Tisch amüsiert verfolgte. „Es ist immer dasselbe: Lachs und Garnelen sind als erstes weg, warten Sie’s ab! Dabei müsste man doch davon ausgehen können, dass diese Damen und Herren sich solche Speisen jeden Tag leisten können, wenn sie wollen, nicht?“ Er drehte sich Irene zu und sah sie verschmitzt lächelnd an.
Sie lachte spontan, weil er genau das ausdrückte, was sie gerade gedacht hatte. Dann betrachtete sie sich ihr Gegenüber genauer. Graublaue Augen, schmale, etwas zu lang geratene Nase, ausgeprägtes Kinn, kurz geschnittene Haare, mehr grau als blond. Ein offenes Lachen. Und diese Stimme! Männlich, sinnlich, aber völlig unprätentiös. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass der Mann ganz offensichtlich auf eine Antwort wartete. Stattdessen lächelte sie ihn blöde an.
„Nun ja, ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung, wie sich Carolas Gäste normalerweise verhalten, denn ich verkehre nicht in ihren Kreisen.“ Sie sagte es mit bedauerndem Unterton und dachte: ‚Shit! Gleich bin ich ihn los‘.
„Grämen Sie sich nicht deswegen. Ich glaube nicht, dass Sie viel versäumen, diese Leute sind normalerweise doch eher langweilig.“ Er verbeugte sich leicht. „Mich selbst natürlich ausgenommen!“ Er begleitete seine Aussage mit einem unwiderstehlichen Lächeln.
Irene prustete fröhlich los. „Wieso glaube ich Ihnen das nicht? Schließlich scheinen Sie ‚diese Leute‘ recht gut einschätzen zu können.“
Er nickte. “Das stimmt! Ich arbeite für einige von ihnen.“ Dann nahm er sie beim Arm. „Kommen Sie, wenn wir uns nicht dazu gesellen, bekommen wir nur noch die Gürkchen und Tomaten der Verzierung ab.“
Er bugsierte sie geschickt mitten in das Büfettgetümmel und schob sie in Richtung Tisch. „Schnappen Sie sich einen Teller und attackieren Sie als Erstes den herrlichen Lachs neben der Platte mit dem gegrillten Gemüse. Ich ergattere uns die letzten Garnelen.“
Amüsiert tat Irene wie geheißen und schnitt zwei großzügig bemessene Scheiben des hellrosa Fisches ab.
Sie fanden zwei Biedermeierstühle, die nebeneinander an der Wand standen und ließen sich darauf nieder. Das Transferieren von Lachs und Garnele auf den Teller des jeweils anderen erforderte einiges Geschick, so ohne Tisch als feste Unterlage, aber sie schafften es ohne Missgeschick.
Irene ließ das zarte rosa Fleisch zwischen Zunge und Gaumen vergehen und stöhnte wohlig. „Das ist wirklich ein Genuss!“
„Mhm“, nuschelte der Mann an ihrer Seite. Dann schluckte er, erhob sich mitsamt seinem Teller und sagte: „Entschuldigen Sie, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt.“ Er streckte die rechte Hand aus. „Max Kerner.“
Irene stand auch auf und nahm seine Hand. „Irene Hofmann.“ Sein Händedruck war kräftig, aber nicht zu fest. Als sie sich wieder setzten, sah sie unwillkürlich auf seine linke Hand, die den Teller hielt. Sie war leicht behaart und nicht allzu groß. ‚Er hat sehr schöne Hände, sie wirken vertrauenerweckend‘, schoss es ihr durch den Kopf.
„… von Carola oder?“
Irene sah Max bestürzt an. „Entschuldigung, ich habe nicht zugehört.“
„Sie sind eine Freundin von Carola?“, wiederholte er seine Nachfrage.
„Freundin ist zu viel gesagt. Carola saß im Gymnasium während der letzten drei Jahre in der Bank neben mir. Und obwohl wir aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Kreisen kommen, haben wir uns über die Jahre nicht ganz aus den Augen verloren. Das heißt zunächst schon. Carola studierte Betriebswirtschaft, ein Jahr lang auch in den USA.“
„Dort lernte sie wohl ihren Mann kennen, soweit ich weiß.“
„Genau. Erst als wir uns zum zwanzigjährigen Abi mit den anderen aus unseren Kursen trafen, haben wir uns wieder gesehen. Und irgendwie hat es sich so ergeben, dass wir uns seitdem alle vier Wochen mit zwei weiteren Bekannten samstagsnachmittags zum Kaffeekränzchen treffen.“
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