Irene war aus der Puste. So viel redete sie normalerweise nicht am Stück. „Und Sie kennen Carolas Mann, nehme ich an?“
Max nickte. „Er ist neuerdings mein Chef. Ich arbeite seit eineinhalb Jahren in der gleichen Bank wie er. Bisher war ich im Inlandsgeschäft tätig, aber seit einem Monat arbeite ich in der Auslandsabteilung und vertrete Alexander, wenn er im Ausland ist. Und das ist oft der Fall.“
„Das ist bestimmt eine interessante Arbeit.“
„Auf jeden Fall! Aber es ist auch anstrengend, ein Leben auf der Überholspur sozusagen. Man muss ständig sofort auf Trends reagieren und darf sich nicht den kleinsten Fehler leisten.“
„Das würde mich nervös machen“, sagte Irene mit Nachdruck. „Schließlich geht es wohl nicht um Kleingeld, mit dem Sie in Ihrem Job zu tun haben.“
Max lachte. „Sie haben es erfasst!“ Er steckte den letzten Bissen Baguette zwischen die Zähne.
„Und heute sind Sie auf dieser Party, weil Alexander mit Ihrer Leistung zufrieden ist?“, wollte Irene wissen.
„Das auch, aber vor allem soll ich nach dem Essen die Bekanntschaft einiger Frackträger machen, mit denen ich zukünftig geschäftlich zu tun haben werde.“
Irene schmunzelte. Max war wohl auch nicht unbedingt den höheren Kreisen zuzuordnen. „Dann ist diese Party also eher ein Geschäftstermin für Sie, und das am Samstagabend…“
„Oh, in unserem Metier gibt es so etwas wie Freizeit nur bedingt. Man gehört der Firma jederzeit, mit Haut und Haaren.“ Er sagte es mit einem schiefen Lächeln, das fatalistisch wirkte.
Irene wollte etwas erwidern, als plötzlich Carolas Mann vor ihnen stand. „Max, kann ich dich dazu überreden, den Zander zusammen mit mir und Mr. McFayden von Brass Ltd. in Glasgow einzunehmen?“ Er grinste Irene an. „Es tut mir leid, dass ich Ihnen Max entführen muss, aber wir haben etwas Wichtiges zu besprechen.“
Irene nickte. „Kein Problem!“ Und dachte: ‚schade‘!
Ihr neuer Bekannter verbeugte sich leicht vor ihr. „Es war schön, Sie kennenzulernen, Irene. Vielleicht bis bald einmal.“ Er lächelte ihr zu, dann wandte er sich um und ging Alexander nach, der bereits auf einen älteren Herrn im dunkelblauen Zweireiher zugesteuert war.
Irene sah Max wehmütig nach und dachte: ‚sehr schade‘!
Sonntags um elf traf sie sich mit Gabriele zum Brunch. Sie hatten sich vorgenommen, einmal im Vierteljahr sonntags nicht zu kochen, sondern sich den Luxus eines kombinierten Frühstücks und Mittagessens zu gönnen.
Zuvor waren sie eineinhalb Stunden durch den Schlosspark in Schwetzingen spaziert, jetzt saßen sie in einem kleinen, gemütlichen Café gegenüber vom Haupteingang des Parks.
Irene erzählte ihrer Freundin vom vorherigen Abend.
Gabriele schmunzelte. „Mir scheint, als hast du da eine Eroberung gemacht. Und wenn ich das mal so sagen darf: Dein Besuch bei der Kosmetikerin hat sich gelohnt, und die neue Frisur ist klasse!“
Irene bedankte sich für das schöne Kompliment, aber dann winkte sie ab. „Ach nee, lass mal. Dieser Max war wirklich ein Netter, aber ich werde wohl kaum noch einmal auf eine von Carolas Partys eingeladen, und in meinem übrigen Leben werde ich ihn nicht treffen.“
„Wohnt er auch in Speyer?“
Irene zuckte mit den Schultern. „Ich habe keine Ahnung, ich weiß nicht einmal, ob er verheiratet oder liiert ist.“
Gabriele zog die Augenbrauen hoch. „Und ihr habt nicht mal Handynummern ausgetauscht? Ich denke, ihr habt euch gut unterhalten.“
„Schon, aber nachdem Alexander Max entführt hatte, war er nur noch in Gespräche mit irgendwelchen wichtigen Leuten vertieft. Irgendwann habe ich ihn gar nicht mehr gesehen, Alexander und einige andere auch nicht. Ich vermute, sie haben sich ins Arbeitszimmer zurückgezogen.“
„Schade! Aber du kannst doch über Carola seine Telefonnummer rauskriegen.“
„Und dann?“ Irene sah ihre Freundin spöttisch an. „Soll ich ihn etwa anrufen und sagen: ‚Hallo, mein Lieber, ich fand Sie amüsant und attraktiv! Wie wär’s mit einem Date‘? Sowas mache ich nicht!“
Gabriele lachte. „Stimmt auch wieder. Aber vielleicht erkundigt er sich nach dir. Ich würde es dir gönnen!“
Aber Max Kerner meldete sich nicht bei Irene und Carola erwähnte ihn auch mit keinem Wort bei ihrem nächsten Treffen. Wahrscheinlich hatte er sie längst vergessen. Schließlich hatten sie nur ein bisschen geplaudert, und vielleicht hatte er ja eine Partnerin. Irene führte sich diese sachlichen Gründe in den kommenden Wochen in Gedanken an, aber insgeheim war sie enttäuscht. Sie war nicht direkt auf eine Liebschaft aus, schon gar keine Affäre. Aber eine Bekanntschaft mit einem netten Herrn in ihrem Alter, mit dem man sich ab und zu treffen und essen gehen oder etwas ähnlich Schönes unternehmen konnte, hätte ihr gefallen.
Allerdings hatte sie weitaus dringendere Probleme als an Max zu denken. Sie versuchte zwar, beim Essen auf überflüssige Kalorien zu achten, aber im Büro war so viel zu tun, dass sie abends einfach Nervennahrung in Form von Schokolade und Keksen brauchte, um am folgenden Arbeitstag wieder funktionieren zu können. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, seit langer Zeit einmal wieder Weihnachtsplätzchen zu backen, aber zum einen hätte sie durch deren Verzehr wieder zugenommen, also versagte sie sie sich fast komplett.
Zum anderen war sie abends, wenn sie endlich nach Hause kam, so müde, dass sie sich schnell etwas Warmes briet, oft genug auch mit schlechtem Gewissen einfach eine Fertigpizza erwärmte oder einfach nur zwei Scheiben Brot mit Wurst und Gürkchen aß, wohl wissend, dass sie Kohlenhydrate abends eigentlich hätte meiden sollen wegen der Fettverbrennung. So lief sie die ganze Zeit über mit extrem schlechtem Gewissen umher, weil sie sich selbst schalt, nicht diszipliniert genug zu sein, um weniger und fettarm zu essen, das Rauchen einzuschränken oder besser, ganz damit aufzuhören, sich endlich in einem Fitnessstudio anzumelden, um etwas Sinnvolles für Figur und Gesundheit zu tun und generell eben leistungsfähiger und fitter zu werden.
Sie überhäufte sich gnadenlos mit Vorwürfen; die Vernunftstimme in ihrem Kopf nahm einen immer strengeren und sehr herablassenden Ton an. Die Bauchstimme, auf die sie eh meist hörte, flüsterte beschwörend auf sie ein, sich zwischendurch einmal etwas Gutes zu gönnen; schließlich sei das Leben schwierig genug, auch ohne sich ständig zu kasteien. Also futterte sie gesalzene Nüsse und Schokokekse, um ihre ganze Misere zu vergessen.
*
Es war noch zwei Wochen bis Weihnachten; sie hatte für ihre Mutter ein neues Nachthemd gekauft. Das war zwar nicht originell, aber sie wusste mit einem Geschenk sowieso nichts mehr anzufangen, und ein Nachthemd konnte sie immer gebrauchen.
Bei Sabine war sie sich nicht sicher. Sie kannte ihre Tochter nicht gut genug, um ihr etwas zu schenken, worüber sie sich wirklich freuen würde. Da fiel ihr mit einem Mal der Wellnessgutschein ein, den sie immer noch nicht eingelöst hatte und sie hatte auch nicht vor, es zu tun. Für Sabine wäre das vielleicht ein schönes Geschenk.
Ihre Tochter hatte angerufen und sie gefragt, ob sie nicht Lust hätte, über die Feiertage zu ihr und ihrem Mann Robert nach Kassel zu kommen. Irene hatte im Gegenzug gefragt, wer sich dann über die Feiertage um ihre Mutter kümmern sollte.
„Wenn du in Urlaub fährst, hat sie zwei Wochen lang auch keinen Besuch“, hatte Sabine argumentiert.
„Und jedes Mal, wenn ich dann zurückkomme, hatte sie wieder einen neuerlichen Alzheimerschub.“
Nein, über die Feiertage wegzufahren, war keine gute Idee. Irene wusste nicht, wie die Wetter- und Straßenverhältnisse sein würden, und sie musste sich dringend ein paar faule Tage auf der Couch gönnen, um etwas Kraft zu tanken für das neue Jahr. Ängstlich fragte sie sich, was es für sie bereithalten würde: die Kündigung aus irgendeinem fadenscheinigen Grund?
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