„Wir können doch mal zusammen hingehen, wenn du willst“, ließ Carola verlauten. „Ich bin regelmäßig dort.“
Spontan dachte Irene ‚Um Gottes Willen, nein‘! Laut sagte sie: „Mal sehen, ich bin im Moment ziemlich beschäftigt. Mein Chef deckt mich mit Arbeit ein, wo er nur kann.“ Um ihre recht brüske Reaktion abzumildern, lächelte sie zaghaft, dann konzentrierte sie sich auf die Kaffeetafel.
Sie war üppig gedeckt. Nebst edlem weißem Porzellan mit Goldrand und beigen Kerzen standen drei Kuchenplatten mit Torten aus einer Konditorei. Carola hatte sie wahrscheinlich nicht einmal selbst gekauft; so etwas Profanes erledigte ihre Haushälterin. Irene besah sich ihre Bekannten und dachte, dass die drei ihre Panik vor einem Jobverlust nicht wirklich nachvollziehen konnten.
„Nimm das Ganze doch nicht so ernst!“, säuselte Carola denn auch prompt. „Falls er dich wirklich rausekelt, hast du schließlich noch Hannes‘ Pension.“ Sie sah in die Runde. „Wer möchte von der Schwarzwälder?“
Irene glaubte sich verhört zu haben. „So etwas sagst ausgerechnet du? Du hast doch keine Ahnung, wovon du redest! Wie soll ich denn mit 438 Euro im Monat meine Miete zahlen und davon auch noch leben können? Soviel kostet bei dir ein neuer Pullover.“
„Wenn’s reicht“, murmelte Beate.
Monika mischte sich ein. „Irene, du bist doch im Betriebsrat, da wird es für deinen Chef nicht so einfach werden, dich aus der Firma hinaus zu komplimentieren.“
„Stimmt. Und um dich kündigen zu können, braucht er einen triftigen Grund“, fügte Beate an.
„Das schafft er leicht. Er triezt sie so lange, bis sie von alleine aufgibt“, gab Monika zu bedenken.
Carola lehnte sich vor. „Hört auf damit, ihr macht sie nur noch unsicherer.“ Sie sah Irene an. „Ich weiß, du nimmst mich nicht für voll, weil ich nicht von einem Arbeitsplatzverlust bedroht bin und keine finanziellen Sorgen habe. Aber gute Arbeit zu leisten ist nicht alles.“
Die anderen starrten Carola fragend an. „Komm mir bloß nicht mit dem Quatsch der Verführungsnummer!“, brauste Beate auf. „Sowas zieht nicht bei jedem Chef.“
Carola grinste spöttisch. „Und nicht bei jeder Sekretärin“, worauf hin Beates‘ Wangen sich dunkelrot verfärbten. Ihr Mann war nämlich zunächst ihr Chef gewesen, bevor sie geheiratet hatten und sie sich in eine andere Abteilung hatte versetzen lassen. „Ich will auf etwas anderes hinaus. Irene, hast du dich in letzter Zeit einmal im Spiegel betrachtet? Objektiv, meine ich. Die Falten um deine Augen werden von Monat zu Monat tiefer und bald hast du mehr graue als schwarze Haare. Und dein Outfit …“ Sie beäugte Irenes blaue Hose und das hellgraue Shirt, „lässt auch zu wünschen übrig!“
„So geht sie doch nicht zur Arbeit!“, entrüstete sich Monika.
„Aber ein bisschen aufgepeppter könntest du dich durchaus kleiden, da hat Carola recht“, sagte Beate.
„Wann warst du das letzte Mal bei einer Kosmetikerin?“, fragte Carola.
„Bitte, wo?“ Irene glotzte ihre Schulkameradin dümmlich an. „So wo war ich noch nie. Wozu auch?“
„Na, dann wird’s aber Zeit! Ich kümmere mich darum. Und eine andere Frisur brauchst du auch!“ Carola biss entschieden in ihre Apfeltarte.
Kapitel 2: Schwerer Gang
Sonntags zum Mittagessen würgte Irene zwei warme Toasts mit Schinken und Käse hinunter; sie hatte absolut keine Lust gehabt, sich etwas Leckeres zu kochen. Normalerweise vergammelte sie sonntags den Vormittag. Aber da sie sich samstags mit ihren Bekannten getroffen hatte, hatte sie an diesem Morgen bügeln und den Putzlappen schwingen müssen.
Noch im Schlafanzug lümmelte sie am Esstisch herum und schaute aus dem Fenster. Draußen goss es in Strömen, was einen Spaziergang ausschloss, mit Rollstuhl schon sowieso. Genervt dachte sie daran, dass ihre Sonntage immer gleich aussahen: Sie fläzte morgens auf der Couch und las, und das hätte sie problemlos den ganzen Tag lang tun können. Aber das war nicht möglich, denn wenigstens zweimal pro Woche musste sie ihre Mutter besuchen, es war ja außer ihr keiner da, der sich um die alte Frau kümmern konnte.
Marga Hofmann war seit zweieinhalb Jahren im Heim. Irene ging sie mittwochs nach der Arbeit und sonntagsnachmittags besuchen. Die alte Dame hatte schon etliche Jahre zuvor angefangen, eigenartig zu reagieren, war manchmal aggressiv und zunehmend vergesslich. Es dauerte eine geraume Zeit, bis die Ärzte Alzheimer diagnostizierten, und zu diesem Zeitpunkt war die unheilbare Krankheit schon relativ weit fortgeschritten. Als sie schließlich zu nachtschlafender Zeit Spaziergänge unternahm, im Nachthemd, und meist nicht mehr wusste, wo sie war und wie sie überhaupt dorthin gekommen war, wo sie stand, nahm Irene sie zunächst bei sich in ihrer Dreizimmerwohnung auf, wo sie die Haustür abschloss. Für Irene war diese Regelung nicht dauerhaft zumutbar, denn ihre Mutter geisterte nachts in der Wohnung herum, betätigte alle Lichtschalter, irgendwann liefen der Fernsehapparat und das Radio. Irene konnte nicht schlafen und die Nachbarn beschwerten sich an den folgenden Tagen über die nächtliche Ruhestörung.
Wenigstens tagsüber, wenn Irene sie einschloss und zur Arbeit fuhr, war ihre Mutter so müde von ihren umtriebigen nächtlichen Aktivitäten, dass sie die meiste Zeit des Tages verschlief.
Nach einigen Wochen wusste die Neunundsiebzigjährige nicht mehr, wie sie auf ihren Blasen- oder Darmdrang reagieren sollte. Nach Rücksprache mit ihrem Hausarzt gab Irene sie schweren Herzens in ein Heim. Sie schob ihre kranke Mutter einfach ab – zumindest empfand sie das so. Aber sowohl Irenes Tochter als auch ihre Bekannten stimmten mit ihr darüber ein, dass es keine andere Möglichkeit gab.
Irene hatte Wochen zuvor schon eine Pflegestufe beantragt, die zunächst verweigert wurde. Beim zweiten Versuch war sie erfolgreich. Da aber die Rente ihrer Mutter nicht ausreichte, die verbleibenden Kosten zu decken und Irene nicht genug verdiente, um für den Rest aufzukommen, musste sie die Eigentumswohnung ihrer Mutter beleihen.
Das tat weh, denn außer der Wohnung hatte die alte Dame keine nennenswerten Ersparnisse, und Irene hätte das Geld aus dem Wohnungsverkauf als Sorglospflaster für ihren Ruhestand gut brauchen können.
Wenigstens hatte sie Jahre zuvor auf den Rat von Gabriele gehört und von ihrer Mutter, als sie noch dazu fähig war, ein Formular unterschreiben lassen, das Irene dazu berechtigte, als deren Vormund zu agieren.
Sie fragte sich, was genau die hohen monatlichen Kosten für das Heim rechtfertigte. Ihre Mutter war in einem Zweibettzimmer untergebracht, wo sie nur wenige persönliche Dinge hatte mitnehmen können. Irene dachte, dass es Marga Hofmann gutgetan und ihren Krankheitsverlauf vielleicht aufgehalten hätte, wenn sie die eigenen Möbel aus ihrer Wohnung und außer den Fotos der Familie noch einige gewohnte Gegenstände um sich gehabt hätte.
Mit drei Mahlzeiten am Tag und der Hilfe bei Morgen- und Abendtoilette waren die Leistungen des Heims erschöpft, bis auf die Tabletten, die sie zuhauf aufgedrängt bekam, um sie ruhig zu stellen.
Aktivitäten, die die Kranken hätten etwas beschäftigen können, bei denen Irene das Gefühl gehabt hätte, ihre Mutter habe wenigstens zwischendurch etwas Sinnvolles zu tun, was ihr ein bisschen Freude bereitete, fanden kaum statt. Die wenigen Pflegekräfte, die ständig überfordert zu sein schienen, waren dankbar, wenn Irene ihrer Mutter beim Essen half. Sie übernahm auch die Wäsche, Nagelpflege und wusch ihr einmal die Woche die Haare, denn diese Dienste hätten extra gekostet. So hatte sie das Gefühl, wenigstens etwas für ihre Mutter zu tun.
Irene dachte oft, wenn die Pflegerinnen einen angemessenen Lohn für ihre schwere Arbeit bekämen, wüsste sie, wofür der hohe monatliche Beitrag benutzt wurde.
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